Ein Notfall

 

Ein Notfall

 

 

von
 

Herbert Henck

 

 

Während der sechs Stunden, die ich einst in der Notaufnahme eines Krankenhauses hauptsächlich mit Warten zu verbringen hatte, hörte ich folgende Sätze, ohne dass ich sehen konnte, wer sie sprach: „Bitte helfen Sie mir! – Bitte helfen Sie mir! – Ich kann nicht mehr. – Bitte helfen Sie mir! – Ich kann nicht mehr. – Ich will nicht mehr. – Bitte helfen Sie mir!“

Zuvor war ich zwar an einer alten Frau vorübergekommen, hatte sie aber nur flüchtig gesehen. Nun vermutete ich, dass diese Worte von ihr stammten. Doch jetzt war noch ein Vorhang zur Abschirmung der Betten, gleichsam als Spanische Wand, vor die Patienten gezogen worden, und ständig war ein Kommen und Gehen von Ärzten, Patienten, Hilfspersonal und Begleitenden auf Gängen und Fluren. Draußen war es inzwischen ganz dunkel geworden, und alles schien in dem großen, unübersichtlichen Saal bei Tag und Nacht künstlich beleuchtet zu sein.

Die Sätze wurden stets langsam und ruhig und in einheitlicher Lautstärke, doch nicht allzu fern und gut verständlich wiederholt, nahezu teilnahmslos und unentwegt. Sie hatten nie etwas Drängendes, das zur Eile mahnte. Dann gab es auch Pausen von einigen Minuten. Gelegentlich kam ein Pfleger zu der bittenden Frau und sagte beruhigend: „Gleich ist es soweit!“ oder „Es kommt gleich jemand!“

Doch die alte Frau wiederholte das, was sie schon gesagt hatte, nur aufs Neue, und ließ auch das höfliche „bitte“ nie fehlen: „Bitte helfen Sie mir! – Bitte helfen Sie mir! – Ich kann nicht mehr! – Bitte helfen Sie mir!“ Die Wendung, dass sie nicht mehr wolle, kam seltener vor, doch wiederholte sich auch diese. Gedankenlos, sinnvoll, sinnlos, gedankenvoll.

 

hauptsächlich Januar bis April 2015

 

Erste Eingabe ins Internet:  Samstag, 4. April 2015
Letzte Änderung: Mittwoch, 4. Mai 2016

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