Bach II

 

Das Arrangieren eines Orgelpunktes
bei Johann Sebastian Bach

Zur Interpretation einer „unspielbaren Stelle“ in der Fuga A-Moll (WTK, Teil 1)

 

(Bach II)

 

von

Herbert Henck

 

 

Gehörte das „3. Pedal“, auch als „Tonhaltepedal“ bezeichnet, zu den wichtigeren Errungenschaften, welche die Flügelmechanik im 19. Jahrhundert prägten, so kam dieser Vorzug den Klavierwerken Bachs noch nicht zugute; doch mag es, gemeinsam mit einem stummen Anschlag, auch eine Lösung für die anstehende Problematik bereithalten, die im vorletzten Absatz dieser Schrift angesprochen wird. Durch Übertragung des Neuen auf Älteres gelang es jedenfalls, eine der technischen Hürden bei Bach zu nehmen, die seine Musik dauerhaft belastete – eher beiläufig und nicht so sehr, dass alle Musik daran scheitern müsste; es handelt sich nur um eine Nebensache, kein Zweifel. Doch kann man die beschriebenen Verfahren womöglich übertragen und anderweitig gebrauchen.

Das eigentliche Klavier-Problem bei Bach ist der Orgelpunkt, mit dem seine Stücke häufig schließen. Nähme man hier zu viel rechtes Pedal (Fortepedal), würden die Harmonien verschwimmen, oder der Orgelpunkt würde sich an einigen Stellen ganz verlieren, so dass ein Behelf und ein (weniger guter) Kompromiss das leisere Neuanschlagen des ausgehaltenen Bass-Tones beim gleichzeitigen Anschlag einer lauteren Stimme wäre, was aber vielleicht zu einer anderen Notation hätte führen können. So schlich sich manchmal eine Satzweise für Orgel in ein Klavierstück ein, und die Herkunft von der Orgel war durch eine Übernahme des „Orgelpunkts“ schon sprachlich wahrnehmbar. [1]

Beispiele gibt es anscheinend nicht viele, und der einzige mir bekannte Fall ist im Folgenden näher ausgeführt. Dabei denke ich vor allem an Bachs Fuga in A-Moll aus dem Zyklus Wohltemperiertes Klavier (Teil 1), wo dieses Stück als Fuga XX auf den Seiten 98–103 steht (Urtext, hg. von Otto von Irmer, Vorwort: „Köln, Frühjahr 1960“, © 1950 by G[ünter] Henle Verlag, München-Duisburg, Umfang: 123 S.). [2] In seiner Coda hebt Bach den Satz aus der Vier- bis zur Siebenstimmigkeit an, und auf den 4 ½ letzten Takten erscheint über dem Orgelpunkt A (der längste in Teil 1) jene Passage, die gemeinhin als „unspielbare“ im Wohltemperierten Klavier erscheint. Zum einen würde den Interpreten natürlich schon die Anzahl von sieben autonomen Stimmen überfordern, zum anderen scheint das A die linke Hand mit dem fünften Finger an diesen Ton zu fesseln. Es gibt jedoch eine Lösung, die diese Musik aus dem ersten Viertel des 18. Jahrhundert selbst kleineren Händen zugänglich macht. Man benötigt freilich ein unauffälliges mechanisches Hilfsmittel dazu, mit dem man den Orgelpunkt als Taste zwischen ihrer maximalen Senkung einerseits und der Klappe andererseits arretieren kann. (Die Klappe, nicht zu verwechseln mit dem Deckel oberhalb der Saiten beim Flügel, muss ja ohnehin bei jeder Bespielung der Tasten geöffnet sein, um die Tasten überhaupt anschlagen zu können.) Neben der gesenkten Taste bleibt der zugehörige Dämpfer von den Saiten abgehoben, was die eigentliche Absicht dieser Prozedur ist, denn in der Klavier- oder Flügelmechanik ist das Abheben eines Dämpfers starr mit einer Tastensenkung verbunden. Darüber hinaus kann man die Dämpfer nur kollektiv mit dem rechten Pedal abheben.

Als Hilfsmittel kann eine einfache Wäscheklammer dienen, die zuvor in ihre zwei hölzernen Hälften zerlegt und dann mit Filz bezogen wurde, um ihre Handhabung unhörbar zu machen (oberster Keil). Unter Umständen ist auch eine Wäscheklammer dienlicher, aus der man zunächst die Eisenfeder entfernt, um dann die beiden Hälften, Rücken an Rücken, mit Holzleim und zwei Schraubzwingen dauerhaft miteinander zu verbinden. Die arretierende Spitze ist dann dort, wo die Wäscheklammer vormals mit Daumen und Zeigefinger geöffnet wurde (siehe links in der Abbildung das keilförmige Zusammenlaufen der Spitzen [2. Keil von oben]). Man muss hier, wie bei sämtlichen Keilen, aber darauf achten, dass zu den begrenzenden Obertasten etwas Spielraum bleibt. Ein Bleistiftstrich auf dem Keil mag helfen, wie weit der Keil eingeschoben werden kann; bei einem Wechsel des Instruments wird dieser Strich gegebenenfalls mit einem Radiergummi wieder entfernt.
 

 

5_Keile


Benutzte Hilfsmittel (Keile) zum Einklemmen zwischen Taste und Klappe.
Von oben nach unten (einzuklemmende Spitzen jeweils links):
1) mit Filz bezogene Klammerhälfte, 2) zusammengeleimte Klammerhälften, teils mit Filz bezogen,
3) Gummikeil, 4) Filzkeil, 5) Holzkeil – Länge: im Original zwischen 7 und 10 cm, Breite: ca. 1 cm

 

Diese Klammer (jetzt mehr ein Keil, als der er auch im Folgenden bezeichnet wird; Entsprechendes gilt für die anderen Keile) legte ich lautlos in der Generalpause (T. 82) auf der Taste des A zwischen den Obertasten des Gis und B zurecht, so dass er kaum verrutschen konnte. Danach schlug ich in T. 83 auf die dritte Viertel den Akkord a-cis1-e1-a1 allein mit der rechten Hand an, den Orgelpunkt A jedoch nur mit der linken Hand unter Zuhilfenahme des Keils, mit dessen Hilfe ich sofort nach dem Anschlag die Taste von A arretierte, indem ich ihn, so weit wie möglich, zwischen Taste und Klappe einschob. Diese Taste wurde hiermit gesenkt gehalten, und ihr Dämpfer blieb auch nach dem Anschlag fortan bis zum Ende des Stückes durch die Arretierung angehoben. So konnte ich mit der linken Hand frei wie an bequemeren Stellen agieren. Die Taste des A ließ sich mit etwas Übung auch gemeinsam mit dem Orgelpunkt über den Keil anschlagen, indem man statt auf die Taste auf den Keil, und der Keil auf die Taste drückte; ein Filz-, Gummi- oder Holzkeil mag ähnliche Eigenschaften haben und zum Teil sogar besser zu handhaben sein, doch ist er im Normalfall umständlicher in der richtigen Größe zu beschaffen (einen Filz- und einen Gummikeil erhielt ich umsonst von Klavierstimmern). Welchen Keil man benutzt, steht im eigenen Belieben; man muss etwas experimentieren, was am besten geht, was die angestrebte Funktion erlaubt und gleichzeitig unhörbar ist. Der Nachteil des Keils ist, dass man die gesenkte Taste nach ihrer Arretierung nicht mehr normal anschlagen kann.

Die gedruckten Fingersätze der Henle-Ausgabe beginnen in dem Schlusstakt (T. 87) mit der linken Hand auf f 1 mit dem zweiten Finger, woraus zu entnehmen ist, dass der Herausgeber den Orgelpunkt A wahrscheinlich schon in dem vorletzten Takt nicht mehr hörte, er ihn früher als Bach enden ließ und die Ausführung volens nolens von Bachs Notenbild hätte abweichen müssen. Der letzte Takt ist somit in der linken Hand zu spielen, als stünde das Ende des Orgelpunkts bereits in Takt 86, da für sein Halten ja im letzten Takt kein Finger der linken Hand mehr frei ist. Dieser letzte Takt ist, so wie er dasteht, auf einer heute „normalen“ Klaviatur unausführbar.

Selbst im Konzert wäre das beschriebene Verfahren unter Umständen möglich, was man aufgrund der Einfachheit und Unauffälligkeit des Hilfsmittels annehmen darf. Das rechte Pedal wäre dazu dienlich, den Gesamtklang am Ende aufzuheben, nachdem die Arretierung durch den Keil nach dem letzten Akkordanschlag in T. 87 zu lösen ist. Nach der Ablage des Keils sollte man vielleicht mit dem Aufheben des Pedals einen kurzen Moment warten. – Das Aufnehmen wie Weglegen des Keils sollte keine Besonderheit sein, sondern nur eine Zweckmäßigkeit. Für ein Publikum sollte dieser technische Vorgang daher so natürlich und selbstverständlich aussehen wie ein normaler Tastenanschlag. Auf dem linken Klaviaturbacken ist gewöhnlich Platz genug für die Ablage eines Keils. Sonst muss man einen anderen Ort suchen, von dem er, ohne dabei aufzustehen, zu ergreifen oder wo er abzulegen ist. Prinzipiell sollte man hier aber so wenig als möglich dem Zufall überlassen.

Das 3. Pedal (Tonhaltepedal) bietet in diesem Fall eine andere Lösung mit seinen Möglichkeiten an, da bisweilen Töne von ihm auch miterfasst werden, die nicht weiterklingen sollen. Man kann aber versuchen, ob es gelingt, den Orgelpunkt A in Takt 80 in der Generalpause nach der Fermate als „stumme Taste“ bereits in das 3. Pedal zu nehmen, den Orgelpunkt dann regulär anzuschlagen und das 3. Pedal erst (zusammen mit dem rechten) am Ende des Stückes wieder aufzuheben. [3] Auch in Takt 83 stünde eine Generalpause für den Anschlag einer stummen Taste zur Verfügung, doch käme diese Stelle, für die im Konzert weniger Zeit gegeben ist, durch eine sehr einfache Schnittstelle bei einer Tonaufnahme wohl besser zur Geltung. Zudem könnten sich Resonanzen auf der stummen Taste (Saite) sammeln und somit einen neuen „Fehler“ verursachen. Man sollte sehen, was reibungsloser möglich ist und wie die Schnittstelle gegebenenfalls klingt. Eine Probe dieser Stelle gehört zu den wenigen, aber wichtigen Voraussetzungen, da man nicht weiß, auf welche Weise ein dem Spieler unbekanntes Instrument reagiert, und das 3. Pedal nicht immer zuverlässig eingestellt ist. Perfekt und ohne jedwede Hektik ist der Orgelpunkt wahrscheinlich nur in einer Tonaufnahme mit Schnitt möglich, ob man nun einen Keil oder das 3. Pedal zu Hilfe nimmt.

Zumindest ein gedankliches Experiment wäre möglich, indem man sich vorstellt, dass bei einer Tonaufnahme vor Beginn der Coda das Instrument gewechselt wird von einem Klavier zur Orgel. In Puristen wird dies wohl nur ein Lachen oder Weinen auslösen; da jedoch Bach sich selbst einen Übergang vom Klavier zur Orgel erlaubte, sei auch dieses erwähnt.


hauptsächlich Oktober 2015

 

 

Anmerkungen
 

[1] Dass Bach mit der Bezeichung „Clavier“ lediglich ein Tasteninstrument (also auch eine Orgel) benannte, ist mir bekannt.

[2] Nebenbei bemerkt handelt es sich hier um eine der wenigen Fugen, die (neben der Schluss-Fuge in H-Moll) auf 6 Notenseiten stehen. Es kommt aber in diesem Zyklus vor, dass eine Fuge mehr Viertel oder mehr Takte besitzt als die A-Moll-Fuge; beispielsweise die Cis-Moll-Fuge: 115 Takte = 460 Viertel (anstelle von 87 Takten = 348 Viertel bei der A-Moll-Fuge).

[3] Vgl. im Internet die Publikation des Verfassers: Die stummen Tasten bei Jules Burgmein (1840–1912), hier (passim).

 

 

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Samstag, 1. November 2015
Letzte Änderung:  Donnerstag, 24. Januar 2019

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