Obrawalde I

 

Meseritz-Obrawalde, Januar 1945

Suchmeldungen, Briefwechsel
und Gespräche mit Vertriebenen

 

von

Herbert Henck

 

 

siehe auch Fotos des Landeskrankenhauses Obrawalde

 

 

 

Einleitung

Forschungen über den letzten Lebensabschnitt des siebenbürgischen Komponisten Norbert von Hannenheim (1898–1945) veranlassten mich im Laufe des Jahres 2002, dem Schicksal der in der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Anstalt Obrawalde untergebrachten Patienten nachzugehen. [1] Da meine brieflichen Anfragen an vielerlei Archive und Institutionen sowie mein Studium des einschlägigen Schrifttums nicht mehr weiterführten und über den Verbleib der Patienten nach der Besetzung durch die Rote Armee Ende Januar 1945 nur wenig bekannt war, versuchte ich unter anderem, Zeit- und Augenzeugen des damaligen Geschehens ausfindig zu machen. Zu diesem Zweck wandte ich mich an den Heimatkreis Meseritz e. V. [2], durch den ich in der Folge die Möglichkeit erhielt, im „Heimatgruß“, dem Mitteilungsblatt des Vereins, zwei Suchmeldungen im Abstand eines halben Jahres zu veröffentlichen und meine Fragen unmittelbar an die Vertriebenen zu richten. [3]

Dieses Vorgehen erwies sich alsbald als fruchtbar, da es mich mit einigen Personen in Verbindung brachte, die über ganz unterschiedliche Kenntnisse hinsichtlich der Verhältnisse in Meseritz oder der Anstalt Obrawalde verfügten. Zwei von ihnen hatten 1945 die Evakuierung von Meseritz kurz vor dem Eintreffen der russischen Truppen miterlebt und wussten zumindest ansatzweise auch etwas über die Evakuierung von Obrawalder Patienten zu sagen. So dauerte es nur wenige Monate, bis sich dank dieser mitunter sehr präzisen Informationen, die sich meines Wissens nirgendwo in der Literatur hätten nachlesen lassen, der Verbleib wenigstens eines Teils der Patienten belegen ließ. – Auch wenn hier und im Folgenden zumeist nur von „Patienten“ der Anstalt Obrawalde die Rede ist, so scheint der Hinweis angebracht, dass viele der internierten Personen nachweislich psychisch und physisch Gesunde waren, deren Leben aber nach den herrschenden politischen, sozialen oder moralischen Vorstellungen des NS-Regimes als „unwert“ galt und die, während des Krieges nicht zuletzt aus Sparmaßnahmen, zu Tausenden ermordet wurden. Das im Anhang genannte Schrifttum dokumentiert dies ohne jeden Zweifel.

Da die Suchmeldungen im „Heimatgruß“ über Anlass, Gang und Ergebnis meiner Forschungen hinreichend Auskunft geben und mancherlei Einzelheit nennen, die andernfalls nur umständlich zu erklären wäre, seien sie hier wiederholt und zugleich in Zusammenhang mit den eingetroffenen brieflichen Antworten wie meinen eigenen Niederschriften der daraufhin geführten Telefongespräche gebracht.

 

 

Die erste Suchmeldung im „Heimatgruß“

Die erste, im Dezember 2002 erschienene Suchmeldung lautete: [4]
 

    Was geschah 1945 in Meseritz-Obrawalde?
    Die Suche nach den überlebenden Patienten der Anstalt und dem verschollenen Komponisten Norbert von Hannenheim

    Wer kann etwas zu den Ereignissen in Meseritz und in Obrawalde im Jahre 1945 sagen? Wer erinnert sich noch an die Zeit, als die Rote Armee bereits einmarschiert war? Wer kennt im heutigen Obrzyce oder Miedzyrzecz Personen, die insbesondere mit den Vorgängen in der Anstalt von Obrawalde im Jahre 1945 vertraut sind? Gesucht werden Personen, die etwas aus eigener Beobachtung oder aus Gehörtem und ihnen Berichtetem wissen.

    Diese Suche soll dazu beitragen, das Schicksal des 1945 in Obrawalde verschollenen Komponisten Norbert von Hannenheim zu klären. Er wurde 1898 in Hermannstadt (Siebenbürgen) geboren und war einer von Arnold Schönbergs begabtesten Schülern an der Berliner Akademie der Künste. Fast alle seine Werke gingen im Krieg verloren. 1944 „verschwand“ von Hannenheim plötzlich, und man nahm lange Jahre an, der Komponist sei in Berlin bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Erst 2001 erwies sich diese Annahme jedoch als Irrtum, denn man fand Dokumente, die belegten, dass der Komponist erst in die Wittenauer Heilstätten, dann Ende August 1944 in die Anstalt von Meseritz-Obrawalde gebracht worden war.

    Da die in Obrawalde seit 1939 verübten Patientenmorde bekannt sind und es auf Norbert von Hannenheim scheinbar keine anderen Hinweise gab, nahm man nun an, der Komponist sei wie Tausende andere in Obrawalde den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Maßnahmen zum Opfer gefallen. Doch auch diese Annahme erwies sich als irrig, denn vor einigen Monaten [Juli 2002] wurde eine Liste entdeckt, die nach Einmarsch der Roten Armee angelegt worden war und im April 1945 die überlebenden Patienten erfasste. In dieser Liste stand auch von Hannenheims Name.

    Was weiter mit dem Komponisten geschah, ließ sich bisher nicht klären, doch ließ sich ebenso wenig feststellen, was mit den anderen überlebenden Patienten von Obrawalde geschah. Daher konzentriert sich die gegenwärtige Suche darauf festzustellen, was allgemein 1945 in Meseritz und was insbesondere mit den Patienten von Obrawalde geschah, um so vielleicht auch über Norbert von Hannenheim noch etwas zu erfahren. Ergebnisse dieser Nachforschungen werden ggf. auch der Obrawalde-Forschung sowie den verschiedenen Suchdiensten (wie DRK) zugänglich gemacht.

    Jeder Hinweis kann wertvoll sein, ist willkommen und wird dankbar entgegengenommen.

    Mitteilungen bitte an:

    Herbert Henck [usw.]

 

 

Die Antworten

Bald nach Erscheinen dieser Suchmeldung erhielt ich von drei Augenzeuginnen briefliche Antworten, nämlich von Dorothea Neuß (geb. Lisinski) aus Goslar, von Anne Moser (geb. Körber) aus Heideck und von Herta Niegisch-Janotte aus Braunschweig. Mit allen diesen telefonierte ich nach Erhalt ihrer Schreiben ausführlich, sei es um das ein oder andere Detail zu klären oder um zusätzliche Fragen stellen zu können.

Die zwei Briefe von Dorothea Neuß, die als erste eintrafen, schilderten den Überlebenskampf der Anwohner aus der Sicht des damals fünfzehnjährigen Mädchens und beschrieben das Geschehen in Obrawalde mehr von außen, aus der ländlichen Umgebung der Anstalt heraus. Gleichwohl gaben sie Einblick in die allgemeinen Zustände oder die Versorgungslage im Sommer 1945 und kamen gelegentlich auch auf einzelne Personen aus Obrawalde zu sprechen.
 

Zwei Briefe von Dorothea Neuß, geb. Lisinski, aus Goslar


    Erster Brief

    Dorothea Neuß
    [...]

    Goslar, den 30. 12. 2002

    Sehr geehrter Herr Henck.

    Ihre Suchmeldung im Heimatgruß ist der Anlaß, Ihnen zu schreiben. Über die Ereignisse in Obrawalde beim Einmarsch der Roten Armee weiß ich nichts, da wir die Monate Juli, August, September [1945] auf dem Gut Obrawalde bzw. Gumpertshof verbrachten. Was ich davon weiß, will ich Ihnen auf einem Extra-Blatt berichten, damit Sie es ohne Probleme kopieren können für eine weitere Verwendung. Ich weiß nicht, wie viele Menschen aus dem „Pflegerdorf“ noch die Zeit erlebt haben. Als wir dorthin zogen, waren die Deutschen bereits vertrieben. Ich hörte nur, daß die Russen die Pflegerin Wieczorek erschossen haben sollen. [5]

    Von den Vorgängen in Obrawalde zur Nazizeit wußten wir nichts. Mein Vater, der zu dieser Zeit auf dem Güterbahnhof arbeitete, sagte nur einmal, es würden nachts viele Särge aus Obrawalde verladen. Ein Herr von der Goltz holte sich öfter ein Expreßpaket ab und spendierte ihm eine Zigarre. Mein Vater wunderte sich, warum er in Obrawalde sein mußte. Nehmen Sie meine spärlichen Auskünfte zur Kenntnis.

    Mit freundlichem Gruß
    Dorothea Neuß

    Hoffentlich können Sie meine Schrift lesen. Sonst nachfragen!
     

    [Anlage:]

    Die russische Armee erreichte Meseritz am 30. Januar 1945. Auf dem Gut Obrawalde, das zur „Heil- und Pflegeanstalt“ Obrawalde gehörte, hielten sie den Gutsbetrieb aufrecht und versorgten damit die Kommandantur. Außer den noch verbliebenen Gutsarbeitern waren deutsche Kriegsgefangene da und Holländer und Franzosen, die die Arbeit machten. Es gab eine Anzahl Kühe und Schweine, Pferde und auch Geflügel. Die weiblichen Kräfte rekrutierte man aus jungen Mädchen, die für den Transport nach Sibirien bestimmt waren. Auch meine Schwester, 19 Jahre alt, war dabei. Der Hof hatte einen tüchtigen Verwalter. Es war der Sergeant Makar Grigorowitsch Borodauku. Er stammte aus der Ukraine, war aber hydrotechnischer Inspektor in Usbekistan.

    Mein Vater hatte einige Kühe eingefangen, die mit übervollem Euter brüllend herumliefen. Ein verlassener Bauernhof, der noch Rüben, Heu und Kartoffeln hatte, wurde unsere Ernährungsgrundlage, wir konnten auch Kinder mit Milch versorgen, mußten aber dem polnischen Bürgermeister jede Woche 1 kg Butter liefern und mit einem Pferd auch zu Diensten sein, wenn die Herren nach Neubentschen zur Bahn wollten. Meine Eltern sprachen beide Polnisch. Als am 24. Juni [1945] die Dörfer östlich von Meseritz vorbeizogen, weil sie ausgewiesen waren, drohte uns dasselbe. Da bot der Sergeant meiner Schwester und anderen Mädchen an, die Eltern nach Obrawalde und Gumpertshof zu holen. Sie sollten helfen, die Ernte einzubringen, er würde dann für einen von Polen unbehelligten Transport über die Oder sorgen. Wir sollten aber unser Vieh mitbringen. Das hat die Polen sehr verärgert, weil der Viehbestand von den Russen stark dezimiert war. Hätte der Sergeant sein Versprechen nicht halten können, was bei der Struktur der Armee durchaus zu erwarten gewesen wäre, wäre es uns bei den Polen übel ergangen. Er hat sein Versprechen gehalten, wenn er auch gegenteilige Anordnungen mit etlichen geschlachteten Schweinen (als Bakschisch an die Befehlenden) unterlaufen musste.

    Uns wurde Wohnung auf dem Nachbargut Gumpertshof, jenseits der Obra, zugewiesen. Mein Vater organisierte dort die Hof- und Feldarbeit. Wir hatten Kühe und 8 bis 10 Pferde, zurückgelassen von den Trecks, erst krank, dann aufgepäppelt, sehr schöne Tiere, die meisten mit einem „Brand[zeichen]“. Auf diesem Hof lebten einige Insassen von Obrawalde. In unserem Haus waren es zwei Frauen, ältere, aus ordentlichen Verhältnissen. Eine von ihnen war aus Ostpreußen. Sie waren ganz „normal“, nur die eine schrieb immer lange Briefe an den russischen Kommandanten mit vielen Bibelzitaten.

    Wenn wir auf den Feldern arbeiteten und Russen über die Mauer kletterten, mußte ich als Jüngste zum Hof jagen, schrie nur dem nächsten Jungen zu „Die Duraks kommen“ (russisch: Dummkopf), dann schwang sich der aufs nächste Pferd (ungesattelt, sie konnten wie die Cowboys reiten).

    Er mußte über die Brücke kommen, ehe die „Duraks“ sie erreichten, jagte nach Gut Obrawalde, die Russen schwangen sich auf Motorräder und brachten die mit Brecheisen bewaffneten zur Raison – auch mit Waffengewalt.

    Ich habe es etwa 3 mal erlebt, und war durch die anderen, die schon seit dem Winter auf Gumpertshof waren, gewarnt worden. Es war nie Spaß, wenn Warnungen vor russischer Gewalt ausgesprochen wurden. Ich hatte vom Februar bis Juni genug Erfahrungen gesammelt.

    Nach der Ernte hat uns der Sergeant mit Soldatenbegleitung bei Küstrin nach Ostdeutschland gebracht. Er hat sein Versprechen halten können. Wir denken gern an diesen Menschen.

    P.S. Eine heitere Episode: Ein Insasse von Obrawalde hatte sich als Arzt ausgegeben. Er trug einen weißen Kittel mit blauem Kragen (es ist aber die Arbeitskluft der Friseure!): Wenn jemand krank war, wurde er zu ihm geschickt. Der Schwindel kam raus, als die Mädchen sich bei Halsschmerzen ausziehen mußten und der Bauch mit Jod eingepinselt wurde. Geflügeltes Wort bei uns: „Was hilft? Jod auf den Bauch.“

    Da war noch ein „Paar“, das sich zusammengefunden hatte, beide dick und kräftig, und trotz „Liebe“ war der Mann oft zornig und schlug sie. In einer Baracke lebten noch einige aus Obrawalde. Sie halfen bei der Arbeit und mußten nicht hungern. Wir hatten reichlich zu essen.

    [Skizze im Brief von Dorothea Neuß:]

    [Oben links die Anstalt Obrawalde, unten rechts der Gumpertshof, dazwischen
    die Obra mit Brücke sowie die Straße zwischen Anstalt und Gut Obrawalde;
     links unten Rübenfelder.]

     

    Zweiter Brief

    Goslar, den 6.1.2003

    Sehr geehrter Herr Henck,

    hoffentlich schreiben Ihnen noch mehr Menschen – was ich aber bezweifle. [...] Die Zeit des Nationalsozialismus wird ausgespart; von den Juden in der Stadt wird nichts erwähnt; obwohl ich Kind war (Jg. 1930) habe ich davon gewußt. Meine erste Erinnerung an das Wort „Palästina“ ist verbunden mit der Ausreise des jüdischen Textilkaufmanns Rathe, noch vor der „Reichskristallnacht“, als auch bei uns die Synagoge brannte. Ein Kind aus dem Kindergarten, Eva-Sabine Hirsch, kam in Auschwitz um. Es gibt Kinder von Ärzten aus Obrawalde, die mit mir in der Schule waren (z. Bsp. Dr. Sch., Dr. H.). Ob sie wirklich nichts gewußt haben, was in Obrawalde geschah? Eine der Frauen aus Obrawalde in Gumpertshof erzählte, daß in der Anstalt eine ausgezeichnete Schneiderin war, die für die Damen der Ärzte nähte und deshalb vielleicht „verschont“ wurde?

    Im übrigen wundere ich mich, daß über dem Sommer in Gumpertshof in meiner Erinnerung viel Schönes liegt: Die Bedrohung durch die Russen war allgemein vorbei, wir waren durch die Kommandantur geschützt, und wir waren ein Haufen Kinder und „Teenager“, die sich des Sommers freuten. Schwimmen, keine Schule und nach der Ernte Kutschfahrten durch die Umgebung, da die Pferde bewegt werden mußten. Ein Abgesang auf die Heimat, was einem später erst klar wurde: There is no cloud without a silver lining! [6]  Freundliche Grüße

    Ihre Dorothea Neuß

     

*

 

Anne Moser und Herta Niegisch-Janotte, von denen die beiden anderen Antworten kamen, berichteten dagegen unmittelbar von den letzten Evakuierungszügen aus Meseritz, wobei gelegentlich auch die mitfahrenden Patienten aus Obrawalde zur Sprache kamen.
 

Ein Brief von Anne Moser aus Heideck

    Heideck, 9.3.[20]03

    Sehr geehrter Herr Henck,

    Vermutlich ist mein Wissen bzgl. Obrawalde nicht sehr hilfreich, denn ich bin Jahrgang 1935 und war bei der Flucht aus Meseritz erst knapp 10 Jahre. Aus eigener Erinnerung und späteren Erzählungen meiner Oma, die mit uns flüchtete, weiß ich folgendes:

    Wir wohnten in der Flottwellsiedlung. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter bekam am 29.01.45 vormittags die Nachricht, dass am selben Tag um 18.00 Uhr der angeblich letzte Zug für Flüchtlinge eingesetzt würde und wir uns dort einfinden sollten.

    Meine Mutter, deren Mutter, (die Oma stammte aus Pieske), meine jüngere Schwester (Jahrgang 40) und ich gingen am Nachmittag zum Bahnhof, der bereits beschossen wurde.

    Es war auffallend, dass relativ viele Männer „im besten Alter“ ebenfalls am Bahnhof waren, im Allgemeinen sah man ja nur Frauen mit Kindern, alte Leute oder Verwundete.

    Als der Zug kam, erstürmten die einzelnen starken Männer ihn und die Frauen mit den Kindern hatten viel Mühe, mitzukommen.

    Meine Oma erzählte später, dass man die leichteren Fälle aus Obrawalde entlassen und zum Bahnhof geschickt oder gebracht hätte. Diese Menschen waren zum großen Teil viel zu leicht angezogen und froren erbärmlich. Sie hatten auch keinerlei Verpflegung dabei, sodass sie im Zug dann von den anderen mitversorgt wurden.

    Wir landeten nach wochenlangen Irrfahrten und langen Standzeiten auf Nebengeleisen in Ketzin a. d. Havel. Von den Menschen, die angeblich aus Obrawalde waren, habe ich nie wieder etwas gesehen oder gehört. Alle, die noch etwas wissen könnten, sind tot.

    Falls der von Ihnen gesuchte Norbert von Hannenheim in diesem Zug gewesen sein sollte, müßte man die Suche und Nachforschungen ab Ketzin intensivieren.
    Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und verbleibe


    Anne Moser
    geb. Körber

 

Im Anschluss an diesen Brief führte ich ein längeres Telefonat mit Anne Moser, über das ich mir folgende Aufzeichnungen machte:
 

Telefonat mit Anne Moser in Heideck (11. März 2003)

    Anne Moser erklärt, dass nicht alles ihrer eigenen Erinnerung entstamme, sondern manches habe sie auch von ihrer jüngeren Schwester erfahren. Diese Schwester war zwar nur 5 Jahre alt, als man aus Meseritz floh, doch lebte die Schwester später viele Jahre mit der Großmutter zusammen und erfuhr von dieser viele Einzelheiten.

    Man habe in Meseritz in der Flottwellsiedlung gewohnt, die fast an Obrawalde grenzte. Der Vater war Postbeamter in Meseritz gewesen und hatte 3–4 Jahre in der Poststelle von Obrawalde gearbeitet. 1942/43 wurde er als Soldat eingezogen. Er war Nationalsozialist, wenn auch kein „hohes Tier“, und geriet später in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Der Vater habe die  „Durchhalteparolen“ gutgeheißen, doch dann kam am Vormittag des 29. 1. 1945 von einer höheren Stelle (möglicherweise dem Ortsgruppenleiter) die „Anweisung oder die Erlaubnis“, man könne den letzten Zug um 18 Uhr zum Flüchten nehmen.

    Diese Flucht kam jedoch nicht unerwartet. Man habe seit Weihnachten 1944 das Herannahen der Front erlebt und hatte wohl einige Vorsorge getroffen. Man packte Hab und Gut auf einen Schlitten, darunter ein Federbett. Die Mutter weinte und schloss die Haustür ab. Man sagte ihr jedoch, sie solle den Schlüssel außen stecken lassen, da man ansonsten die Tür eingeschlagen werde. Mit dem Schlitten sei man dann zum Meseritzer Bahnhof gezogen. Dort wurde ihnen der Schlitten von deutschen Soldaten weggenommen, so dass sie nur mitnehmen konnten, was sie zu tragen imstande waren. Der Bahnhof sei bereits unter Beschuss gestanden, und man habe roten Feuerschein im Osten gesehen.

    Der Zug bestand aus einfachen Waggons, aus Viehwagen, auf deren Boden Stroh gestreut war. Unterwegs seien auch Leute gestorben, und man legte sie beim Halten des Zuges einfach neben den Schienen ab. Man war sehr besorgt auszusteigen, da der Zug unerwartet hätte weiterfahren können. Durch solch unvermutetes Abfahren seien auch Familien getrennt worden, was schon bei der Abfahrt vorgekommen sei. Es habe keine Einstiege in die Waggons gegeben, sondern man habe hinaufklettern müssen. Auch habe eine Frau in dem Zug entbunden, und man habe die anwesenden Kinder durch das Singen von Volks- und Kinderliedern abzulenken versucht. Zum Teil hatte man Lebensmittel (Dauerwurst) mitgenommen, gelegentlich bekam man auf einem Bahnhof einen Teller Suppe. Zum Verrichten eines Geschäftes ging ein Kindertöpfchen ringsum, das anschließend aus einer Fensterluke ins Freie entleert wurde. Einer der mitfahrenden Männer, möglicherweise ein Patient aus Obrawalde, benutzte es aber nie und machte immer in die Hose; dementsprechend habe er gestunken.

    Auf die Frage, ob sie wirklich „wochenlang“ mit dem Zug unterwegs waren, bestätigte Frau Moser: Der Zug fuhr am 29. Januar ab und endete erst Anfang März in Ketzin; tagelang stand er auf irgendwelchen Nebengleisen, und man sah durch die kleinen Fensterschlitze die Frontzüge mit Soldaten ost-, aber auch westwärts vorbeifahren, was man sich nicht erklären konnte. Als man schon 14 Tage unterwegs war, erkannten die Frauen eine Ortschaft, die nicht übermäßig weit von Meseritz entfernt war, und man wunderte sich, dass man immer noch (oder wieder) so nahe am Ausgangsort sei.

    In Ketzin sei man schließlich ausgestiegen und habe in einer geräumten Zuckerfabrik gewohnt, jeweils etwa acht Personen in einem Raum, geschlafen habe man auf Strohsäcken. Gekocht worden sei in der Kantine, in der die Mutter und Großmutter geholfen hätten. Die Frage, wer diese Unterkunft und die Verpflegung organisiert habe, konnte Frau M. nicht beantworten. Sie erinnert sich nur an einen „Obmann“ mit Armbinde, es gab aber keine Uniformierten. Der Obmann habe den Kindern aufgetragen, gegen die zu erwartenden Russen Panzersperren auf der Straße zu bauen. Sie sammelten dann, acht bis neun an der Zahl, Zweige und legten sie auf die Straße, bis ihnen jemand sagte, dass die Panzer darüber einfach hinwegrollen würden. Ende April kamen die Russen, und die Frauen und Kinder versteckten sich in den großen Kellergewölben der Fabrik, wo sie sich „Höhlen“ unter zuckergefüllten Säcken bauten. Die Russen schossen jedoch manchmal in die Säcke und zerschossen auch ein Wasserrohr, das an der Kellerdecke entlanglief. Das austretende Wasser setzte bald den Keller unter Wasser und löste den Zucker in den Säcken auf. Bald stand man knöcheltief in Wasser, doch stieg es zum Glück nicht viel höher. Zu den Kindern waren die Russen freundlich, nur wenn sie eine Ladung Wodka bekommen hatten, fürchtete man sie.

    Nach dem 8. Mai 1945 (Kapitulation, Kriegsende) hieß es bald, die Zuckerfabrik müsse geräumt werden, doch blieb man bis etwa Anfang August und zog dann nach Fürstenwalde zu Verwandten. Später übersiedelte man nach Schwerin in Mecklenburg, floh aber am Tag nach dem Aufstand des 17. Juni [1953] nach Süddeutschland.

*

Weitere Details über die Evakuierungszüge ergaben sich aus mehreren Telefonaten mit Herta Niegisch-Janotte, die mir ursprünglich nur kurz geschrieben hatte, um mich auf eine Kontaktperson im heutigen Meseritz hinzuweisen. Aufzeichnungen über diese Telefonate, die zum Teil noch durch Informationen aus einem am 17. Oktober 2003 geschriebenen Brief von Frau Niegisch-Janotte ergänzt wurden, schließen sich hier an:
 

Drei Telefonate mit Herta Niegisch-Janotte (N.-J.) in Braunschweig (22. und 23. März 2003)
sowie ein ergänzender Brief (17. Oktober 2003)

    Herta Niegisch-Janotte (geb. 1912) ist die Tochter von Fritz Janotte (ein französischer Name), des einstigen Leiters der Anstaltskasse in Obrawalde. Sie kam im August 1944 nach der Ausbombung in Insterburg [7] mit ihren drei Kindern zu ihren Eltern nach Obrawalde, wo sie bis zu ihrer Flucht Ende Januar 1945 lebte. Sie hatte ab November 1929 eine 3-jährige Verwaltungslehre bei der Amtsverwaltung in Obrawalde gemacht, wobei sie in allen Büroabteilungen ausgebildet wurde. 1934 hatte sie auf einer Seereise ihren späteren Mann kennen gelernt; sie heirateten im April 1935 und übersiedelten in der Folge nach Insterburg. Nach ihrer Flucht aus Insterburg habe sie bis zur Evakuierung ehrenamtlich im Standesamt – Zweigstelle Obrawalde – gearbeitet; ihr Vater war auch gleichzeitig Standesbeamter, wodurch sie manches „mitbekommen“ habe.

    In der Anstalt war ihr der Zutritt nur zum vorderen Teil mit dem Verwaltungsgebäude gestattet; auch das Haus des Direktors Walter Grabowski befand sich im Eingangsbereich; im „Pflegerdorf“ waren das Pflegepersonal, aber auch Handwerker untergebracht; Ärzte wohnten separat ebenfalls im Eingangsbereich. Der damalige Bürgermeister von Meseritz, Buse, arbeitete zugleich als Schlosser in der Anstalt. Frau N.-J. wusste, dass in Obrawalde nicht nur Geisteskranke waren; ein „Patient“, ein früherer Lehrer, habe ihrem Vater erzählt, dass er wegen aktiver Mitgliedschaft in der SPD nach Obrawalde gekommen sei. Mittags – man ging zum Essen nach Hause – säuberte eine Frau Schulz die Räume der Kasse. Eines Tages war diese Frau verschwunden. Die Nachforschungen des Vaters ergaben, dass man diese Frau wegen der Namensgleichheit mit einer Patientin und der Verwechslung einer Krankenakte inzwischen getötet hatte. Personen wie Amanda Ratajczak [8] kannte Frau N.-J. jedoch nur vom Sehen.

    Trotz des Nahens der russischen Front war man angehalten worden, Obrawalde keinesfalls zu verlassen, ja es sei vom Anstaltsdirektor Grabowski „bei Todesstrafe“ verboten gewesen. Ihr Vater habe eine diesbezügliche Anordnung des Direktors abgeschrieben, und dieses Schriftstück befinde sich heute, wie anderes mehr, im Archiv der Wewelsburg (s. u.).

    Am 29. Januar 1945 [Montag] sei sie mit ihren drei Kindern mit einem „Panjewagen“ (Ponys) des Direktors zum Meseritzer Bahnhof gebracht worden. Mit auf dem Wagen war Frau Frassek, die Frau eines Pflegers. Die Bahnverwaltung hatte alle im Güterschuppen verfügbaren Waggons zusammengeschoben, um die dichtgedrängten Menschenmassen aufzunehmen (nicht nur die wenigen Obrawalder). Dieser „letzte Zug“ sollte um 21 Uhr abfahren, konnte aber erst um 6 Uhr am nächsten Morgen (d. h. am 30. Januar) in einer Feuerpause der Russen den Bahnhof verlassen. In einen Lazarettzug, der auf dem Bahnsteig stand, habe man nicht einsteigen dürfen. Im Osten sei der Himmel von Bränden „blutrot“ erhellt gewesen.

    Im vorderen Teil des Zuges, hinter der Lokomotive, habe es Personenwagen gegeben, weiter hinten Güterwagen, die nur für Mütter mit Kindern bestimmt waren. Fremde Frauen „schnappten“ sich den Jüngsten (3 Jahre alt), um als Mutter mit Kind schnell in einen Waggon – einen gerade dort stehenden Güterwagen – einsteigen zu können. Eine Cousine von Frau N.-J., die auf dem Bahnsteig nach ihrer Mutter suchte, sei dann gekommen und habe gesagt, im vorderen Zugteil gebe es noch genügend Platz, und so sei man nach vorne in einen Abteilwagen umgestiegen. Unterwegs habe die Cousine dann bei einem Stillstand des Zuges den Kleinen nach vorne in das Personenwagenabteil geholt. In diesem Zug seien auch Patienten aus Obrawalde mitgefahren, die sich zum Teil in Bettlaken gehüllt hatten, um sich vor der Kälte zu schützen. Einer von ihnen war mit in ihrem Abteil, und man habe für den ältesten (vierjährigen) Jungen gefürchtet, doch erwies sich der „Patient“ als völlig harmlos.

    Man sei über Landsberg und Küstrin zunächst bis Berlin gefahren, wo man wegen eines Luftangriffs habe warten müssen. Der Zug endete dann nach mehrstündiger Fahrt – die Ankunftszeit ist nicht mehr erinnerlich, doch war es keinesfalls schon Abend, eher später Vormittag – in Nauen, wo in einem Lager (einer Schule) die Personalien der Flüchtlinge aufgenommen wurden und wo man eine Nacht auf Strohsäcken verbrachte. Die Obrawalder Patienten seien hier von den übrigen getrennt worden, um wieder in eine Anstalt überführt zu werden. Der Ortsname Treptow [9] [(an der Rega), heute Trzebiatów] fällt in diesem Zusammenhang, doch wird er gleich wieder verworfen; Frau N.-J. kann sich nicht mehr entsinnen, wohin die Patienten gebracht wurden; vermutlich doch eher in die nähere Umgebung von Berlin, da ich einwende, Treptow liege ja unweit östlich von Stettin, was sehr weit entfernt gewesen wäre und zugleich die Rückkehr in den Osten bedeutet hätte. Ein geistig leicht behindertes Dienstmädchen, das aus Obrawalde mitgekommen war, sei, als man von Lebensmitteleinkäufen in der Stadt zurückkehrte, jedenfalls plötzlich verschwunden gewesen, und man habe auf Nachfrage erfahren, die Frau sei mit den anderen Patienten in eine Anstalt überführt worden. Ihr Name war M. B., und ihr Obrawalder Entlassungsschein, auf dem auch ihr Geburtsdatum stehen müsse, sei einst auf der Wewelsburg ausgestellt gewesen.

    In der Folge wurde man in Privatunterkünfte bei Nauener Familien umquartiert. Dass dies auch wirklich der „letzte“ Zug gewesen sei, der Meseritz verließ, sei dadurch bestätigt worden, dass man gerüchteweise hörte, nach seiner Abfahrt sei eine überquerte Eisenbahnbrücke von deutschen Soldaten gesprengt worden. Hierüber habe auch im „Heimatgruß“ einmal etwas gestanden.

    Ihre grippekranke Mutter hatte zunächst in Obrawalde bleiben wollen, doch fuhr sie schließlich auf einem Wagen (einer Pferdekutsche) des Direktors über Pieske bis nach Königswusterhausen mit. Sie war hierbei in Begleitung der Frau des Pflegers Wolters und der des Oberpflegers [Karl] Weidemann. (Frau N.-J. bestätigt, dass Letzterer sich kurz darauf das Leben nahm.)

    Ihr Vater habe vor seiner Flucht die übrig gebliebenen Lohntüten aus der Anstaltskasse genommen und habe damit später in Bentwisch bei Wittenberge den dorthin geflüchteten Angestellten ihre Gehälter ausbezahlt. Das übrige Geld – er ließ nur das Hartgeld zurück – habe er per Postquittung an die damals zuständige Provinzialverwaltung in Stettin geschickt. Der Vater sei zu Fuß mit einem Schlitten voller Gepäck aus Obrawalde geflüchtet – die Zufahrtsstraße nach Obrawalde stand bereits unter Beschuss. In Schermeisel [10] (Bahnstation) sei er dann von einem Soldatenzug mitgenommen worden.

    Frau N.-J. sagte später in dem Münchener Obrawalde-Verfahren als Zeugin aus (1965); sie gab hierbei die Verwechslung der Frau Schulz zu Protokoll (s. o.) und begegnete dort auch dem Zahnarzt Richard Rosenberg [11]. Von Rosenberg hatte sie bereits in Obrawalde gehört, da ihr Vater mit ihm gut bekannt war und bei ihm auch in zahnärztlicher Behandlung stand. In München war neben Rosenberg und ihr auch die inzwischen verstorbene Verwaltungsangestellte Elisabeth Schmidt als Zeuge geladen; nach dem Verhör ging man gemeinsam zum Essen.

    Von einer Theatergruppe in Obrawalde, nach der ich frage, ist ihr nichts bekannt; möglicherweise habe es so etwas in der Zeit gegeben, bevor sie nach Obrawalde kam. Auch der Name Hans Ralfs [12] ist ihr unbekannt.

    Frau N.-J. stellte in den 1980-er Jahren dem Archiv auf der Wewelsburg [13] zahlreiche persönliche Dokumente, darunter auch Photos und verschiedene Aufzeichnungen über ihre Flucht, zur Verfügung und korrespondierte mit Wulff-Eberhard Brebeck, der später den Katalog „Deutsche im östlichen Mitteleuropa, Kultur – Vertreibung – Integration“ veröffentlichte; hier werde sie auch namentlich als Informantin genannt. [14] Auf der Wewelsburg gebe es ein Archiv, in dem Dokumente über Meseritz und die Vertreibung gesammelt seien, auch ein Modell der Stadt sei dort aufgebaut.

 

*

 

Nachdem ich mich noch im März 2003 ohne Ergebnis an verschiedene Archive in Ketzin an der Havel, Friesack und Nauen (Stadt-, Verwaltungs- und Kreisarchiv, Heimatmuseum und -verein) mit der Frage gewandt hatte, ob über die von mir geschilderten Ereignisse hinsichtlich der Evakuierungszüge und dem Verbleib der Obrawalder Patienten vor Ort etwas bekannt sei und es gegebenenfalls hierüber Unterlagen gebe, meldete sich Helmut Augustiniak, der Gründer und Vorsitzende des Heimatvereins Ketzin/Havel e. V. (siehe hier), bei mir, da mein Ersuchen an ihn weitergeleitet worden war und er auch durch Susanne Radicke, die Leiterin des Kreis- und Verwaltungsarchivs in Friesack, von meinem speziellen Interesse erfahren hatte. Ein Telefonat erbrachte folgende Informationen:
 

Telefonat mit Helmut Augustiniak, Ketzin (6. April 2003)

    Herr Augustiniak hat sich inzwischen bei verschiedenen Personen in Ketzin erkundigt, unter anderem auch telefonisch bei seinem Schwager, der bis 1945 das Meseritzer Gymnasium besucht hatte. Dieser Schwager wusste zu berichten, dass er auf dem Gymnasium einen Mitschüler hatte, der in Obrawalde wohnte. Von diesem Mitschüler habe der Schwager erfahren, dass man in Obrawalde manchmal einen „ganzen Haufen Offiziere“ in voller Uniform und mit Ehrenabzeichen und Ordensschmuck gesehen habe, wobei es sich um frühere Stuka-Piloten [siehe hier] gehandelt habe. Bei diesen Piloten sei es infolge der fast senkrechten Sturzflüge und dem anschließenden ebenso steilen Wiederaufstieg wiederholt zu einer Blutleere im Gehirn gekommen, wodurch Nervenschäden entstanden seien, die in Obrawalde behandelt wurden. Herr Augustiniak meint, dass es sich um diese Bomberpiloten gehandelt haben müsse, die Frau Moser auf dem Meseritzer Bahnsteig als „Männer im besten Alter“ [siehe oben] bezeichnete. Der Schwager geht Ende Mai zu einem Treffen ehemaliger Abiturienten und will im dortigen Kreis meine Anfrage zeigen.

    Von den Ereignissen in der Zuckerfabrik ist offiziell nichts bekannt. Doch wurde Herrn Augustiniak von einer Fußpflegerin erzählt, dass diese einen Kunden hatte (der Name fiel ihr nicht mehr ein), der von „künstlichen Höhlen“ zwischen den gespeicherten Zuckersäcken berichtet habe, in denen man die Kinder zu verstecken suchte, als die Russen einmarschierten. Auch dass in diese Säcke gelegentlich geschossen wurde, enthielt der Bericht. Auf Nachfrage erzählt Herr Augustiniak, dass es die Gebäude dieser Zuckerfabrik wohl immer noch gebe, aber in ganz heruntergekommenem Zustand, und die Gebäude hätten inzwischen für ein Kraftfuttermischwerk gedient; jetzt sei ein Spediteur (Getreide) dort mit 3–4 Mann tätig.

    Die Aktenüberlieferung aus Ketzin sei an das Landeshauptarchiv Potsdam abgegeben worden, zumindest die Bestände, die vor 1952 angefallen waren. Die Abgabe sei aber freiwillig gewesen, und jede Ortschaft habe selbst darüber entscheiden können, ob sie ihre Unterlagen nach Potsdam habe abgeben wollen.

    Bekannt ist, dass es in Ketzin 1945 sehr viele Flüchtlinge gegeben habe, doch gebe es Magistratsakten erst ab Oktober 1945.

    Als ich erwähne, dass Neuruppin eine der möglichen Anstalten sei, in die die Patienten kamen, meint er, dass hierfür wohl auch Brandenburg in Frage käme.

    Herr Augustiniak will sich weiter umhören.

Ergänzend teilte mir Helmut Augustiniak einige Monate später mit, dass er sich nun auch mit mehreren Personen, die mit dem letzten Zug aus Meseritz nach Ketzin gekommen waren, unterhalten habe. Die meisten hätten sich indes an nichts mehr erinnert, da sie 1945 noch sehr jung waren. Auch habe er den Eindruck gewonnen, dass einigen die Erinnerung an diese Vergangenheit unangenehm war und sie lieber darüber schwiegen. Bestätigt werde auf jeden Fall die Erzählung von Frau Niegisch-Janotte aus Braunschweig. Über Patienten aus Obrawalde habe keiner Auskunft geben können, und auch das Abiturienten-Treffen seines Schwagers habe zu keinem weiteren Ergebnis geführt.

 

 

Wewelsburg und Neuruppin

In der Folge nahm ich, dem Hinweis von Herta Niegisch-Janotte folgend, Kontakt mit Wulff-Eberhard Brebeck am Kreismuseum in der Wewelsburg [siehe hier] (Büren-Wewelsburg) auf, da der Kreis Paderborn eine Patenschaft zu der Heimatkreisgemeinschaft Meseritz unterhält und in diesem Museum das Andenken an die heute in Polen gelegene Stadt durch eine zeitgeschichtliche Abteilung pflegt [Nachtrag: Die Dauerausstellung über Meseritz wurde 2010 aufgelöst, siehe auf der angegebenen Webseite über die Wewelsburg, hier im Abschnitt „Museumsabteilungen“ das Verzeichnis „Ehemalige Ausstellungen“]. Ein sorgfältig ausgeführtes Modell vermittelt darin ein Bild von dem einstigen Aussehen der Stadt, und an Dokumenten ist manches gesammelt, was mit der Ortsgeschichte und insbesondere der Vertreibung aus dem Osten in Verbindung steht. Auch Kopien der Obrawalder Sterbebücher aus den Jahren 1943–1945 sind hier archiviert. [15] Auf meine Bitte hin wurde mir aus diesen Sammlungen jener Entlassungsschein von M. B., den Frau Niegisch-Janotte erwähnt hatte, photokopiert zugänglich gemacht. Dieser Entlassungsschein war insofern von Wichtigkeit, als er das einzige mir zugängliche Dokument über eine ehemals in Obrawalde internierte Person darstellte, die zu den beiden von mir gesuchten, nach Nauen oder Ketzin „evakuierten“ Patienten-Gruppen gehörte und deren Namen sich in den Aufnahmebüchern einer anderen Anstalt möglicherweise wiederfinden ließ.

Letztere Vermutung erwies sich unerwartet schnell als richtig, denn nach einigen Recherchen im Internet und einem Blick auf die Landkarte, welche Ortschaften für eine Unterbringung von Patienten in der näheren Umgebung von Ketzin und Nauen in Frage kämen, schrieb ich einen Brief an das heutige Neuruppiner Hospiz. Im Juni 2003 erfuhr ich von der dortigen Archivarin Antje Arndt, dass die gesuchte M. B. zusammen mit anderen Obrawalder Patienten tatsächlich am 3. Februar 1945 in die damalige Landesanstalt Neuruppin aufgenommen worden war. [16] Wenig später erhielt ich von Frau Arndt auch eine Liste mit den Namen von 25 Patienten (16 Männer und 9 Frauen), die am 1. und 3. bzw. am 12. und 13. März 1945 im Aufnahmebuch der damaligen Landesanstalt Neuruppin verzeichnet worden waren und bei denen Obrawalde oder Ketzin als Herkunftsorte eingetragen waren. Forschungen vor Ort könnten unter Umständen noch andere Namen als die mir bekannt gewordenen zu Tage fördern, wobei zu berücksichtigen ist, dass die von Anne Moser beschriebene Zugfahrt erst Anfang März 1945 ihr Ziel Ketzin erreichte und dass die vor diesem Zeitpunkt in der Neuruppiner Anstalt aufgenommenen Ketziner Patienten aus anderen Transporten, vielleicht auch nur ausnahmsweise aus Obrawalde, sondern aus anderen Anstalten stammten.

 

 

Die zweite Suchmeldung im „Heimatgruß“

Die zweite Suchmeldung knüpfte unmittelbar an die Ergebnisse der ersten Umfrage an und versuchte, nachdem sich von Hannenheims Schicksal weitgehend hatte klären lassen, etwas über den Verbleib der Obrawalder Patienten zu erfahren. Dass sich noch vor Erscheinen der zweiten Suchmeldung zumindest ein Teil der evakuierten Patienten in der Landesanstalt Neuruppin würde auffinden lassen, war nicht vorherzusehen gewesen. Darüber hinaus gab (und gibt) es immer noch die Hoffnung, weitere Augenzeugen anzusprechen, die das bereits Bekannte durch ihre Erfahrungen vervollständigen.
 

    Wer fuhr nach Ketzin an der Havel oder nach Nauen?
    Die letzten Evakuierungszüge für Meseritz und Obrawalde
    im Januar 1945
     [17]

    Im Dezember 2002 wurde in dieser Zeitschrift eine Suchmeldung abgedruckt, mit der ich etwas über den 1945 in Obrawalde verschollenen siebenbürgischen Komponisten Norbert von Hannenheim zu erfahren hoffte (vgl. „Heimatgruß“ Nr. 163, S. 34). Von Hannenheim war 1944 als „Patient“ in Obrawalde eingeliefert worden, doch verloren sich seine Spuren im April des folgenden Jahres. So versuchte ich, auf dem Wege über das kollektive Schicksal der 1945 in Obrawalde verbliebenen Patienten zugleich auch etwas über den Komponisten zu erfahren. Meine Suche im „Heimatgruß“ überschnitt sich indes mit Ergebnissen brieflicher Anfragen in Polen, und so lagen mir bereits bei Erscheinen der Suchmeldung Hinweise vor, dass der Komponist im September 1945 in Obrawalde verstorben war. Dies bestätigte sich in den folgenden Wochen durch Dokumente aus dem Meseritzer Standesamt sowie der Anstalt Obrawalde. (Anlass, Verlauf und Ergebnisse dieser Nachforschungen werden Ende dieses Jahres in dem Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2003 „Berlin in Geschichte und Gegenwart“ veröffentlicht [siehe unten].)

    Unterdessen antworteten auf meinen Aufruf im „Heimatgruß“ hin drei Leserinnen, denen die Verhältnisse in Meseritz bzw. Obrawalde beim Eintreffen der Roten Armee und der Zeit danach aus eigenem Erleben bekannt waren und die mir in der Folge ihre Erinnerungen schriftlich und fernmündlich mitteilten. Es waren dies Frau Dorothea Neuß (geb. Lisinski) aus Goslar, Frau Anne Moser (geb. Körber) aus Heideck und Frau Herta Niegisch-Janotte aus Braunschweig, denen auch an dieser Stelle für Ihre Unterstützung gedankt sei.

    Hatte meine ursprüngliche Suche ihr Ziel zwar erreicht, so wurde mir durch die Berichte der Augenzeuginnen doch um vieles klarer, was sich seit Ende Januar 1945 in Obrawalde zugetragen hatte. Darüber hinaus gab es konkrete Hinweise, was mit jenen Obrawalder Patienten geschehen war, die kurz vor dem Eintreffen der russischen Truppen als „leichtere Fälle“ entlassen und in völlig unzureichender Kleidung und ohne Verpflegung zum Meseritzer Bahnhof geschickt worden waren, um hier einen der letzten Evakuierungszüge zu erreichen.

    Das Personal der Klinik, das zum Teil für den vorausgegangenen tausendfachen Mord an den Patienten verantwortlich war, hatte auf Grund der Anordnung seines Direktors Walter Grabowski am 29. Januar 1945 die Anstalt verlassen. Türen und Fenster waren weit geöffnet worden (bei 16 Grad Kälte), um den anrückenden russischen Truppen Wehr- und Widerstandslosigkeit anzuzeigen. Ansonsten überließ man die Patienten ihrem Schicksal.

    Besonders aufschlussreich war der Bericht von Anne Moser, die als zehnjähriges Mädchen, begleitet von Mutter, Großmutter und einer jüngeren Schwester, einen der letzten Züge aus Meseritz nehmen konnte, mit denen die Flucht überhaupt möglich war (viele Einzelheiten erfuhr sie erst später von ihrer Mutter). Ihr Vater hatte einst in der Obrawalder Poststelle gearbeitet. Der Zug, der zur Flucht eingesetzt war, bestand aus fensterlosen Güterwagen, deren Böden mit Stroh bedeckt war. Er sollte am 29. Januar 1945 gegen 18 Uhr vom Meseritzer Bahnhof, der bereits unter Beschuss stand, abfahren. Die Abfahrt verzögerte sich bis gegen 21 Uhr. Auch Patienten aus Obrawalde fuhren hier mit. Was nun folgte, war eine mehrwöchige Irrfahrt durch das Brandenburger Land bei eisigen Temperaturen. Nach vierzehn Tagen war man fast wieder am Ausgangsort der Fahrt. Tagelang stand man auf Nebengleisen und wartete. Da die Weiterfahrt des Zuges nie angekündigt wurde, wagte kaum jemand auszusteigen, um nicht plötzlich von den Seinen getrennt zu werden (dies kam bereits bei der Abfahrt vor). Unterwegs starben Menschen, ein Kind wurde geboren; die Versorgung mit Lebensmitteln und die hygienischen Verhältnisse waren unbeschreiblich. Erst Anfang März endete die Fahrt in Ketzin an der Havel, wo man die Flüchtlinge in einer stillgelegten Zuckerfabrik provisorisch unterbrachte und wo bald darauf ebenfalls die russischen Truppen eintrafen.

    Nicht minder erhellend und bewegend war das, was Herta Niegisch-Janotte (geb. 1912), die Tochter des einstigen Leiters der Obrawalder Anstaltskasse, erzählte. Sie lebte nach der Ausbombung in Insterburg mit ihren drei Kindern seit August 1944 bei ihren Eltern in Obrawalde. Auch sie sollte am 29. Januar 1945 mit ihren Kindern einen von Meseritz abgehenden Zug nehmen. Dieser Zug, der im vorderen Abschnitt aus Personen-, im hinteren aus Güterwagen bestand, sollte etwa um 21 Uhr abfahren, doch konnte er den Bahnhof erst in einer Feuerpause am nächsten Morgen gegen 6 Uhr verlassen. Auch in diesem Zug gab es Obrawalder Patienten, die zum Teil Bettlaken mitgebracht hatten, um sich vor der Kälte zu schützen. Die Fahrt führte über Landsberg, Küstrin und Berlin und endete noch am selben Tag in Nauen. Hier war man auf die Flüchtlinge vorbereitet, nahm ihre Personalien auf und brachte sie in der Folge bei Nauener Familien unter. Hier wurden auch die Patienten aus Obrawalde abgesondert, und als Herta Niegisch-Janotte von ersten Lebensmitteleinkäufen in Nauen zurückkehrte, waren sie bereits abtransportiert – in eine andere Anstalt, wie es hieß. Dass dies der letzte Zug aus Meseritz war, habe man durch das Gerücht bestätigt gesehen, dass hinter ihm von deutschen Soldaten eine Eisenbahnbrücke gesprengt worden sei, worüber auch im „Heimatgruß“ einmal etwas gestanden habe.

    Bis heute ist die Frage offen, was mit jenen Obrawalder Patienten geschah, die in diesen zwei Zügen mitfuhren.

    Gibt es in der Leserschaft des „Heimatgrußes“ vielleicht noch andere Zeitzeugen, die das Schicksal derer teilten, die in diesen Evakuierungszügen fuhren? Wer kann noch weitere Einzelheiten über die damaligen Geschehnisse beisteuern?

    Wieder sind alle Mitteilungen willkommen, die mit diesen Zugfahrten oder mit anderen Ereignissen in Obrawalde nach der russischen Besetzung in Verbindung stehen.

    Mitteilungen werden erbeten an [Anschrift].

 

*

 

Kurz nach Erscheinen dieser Suchmeldung erhielt ich einen Anruf von Winfried Schneider aus Hessisch Oldendorf bei Hameln, der als Kind Meseritz offenbar in demselben Zug wie Herta Niegisch-Janotte verlassen hatte.
 

Telefonat mit Winfried Schneider, Hessisch Oldendorf (2. Juli 2003)

    Herr Schneider hat meine zweite Suchmeldung im „Heimatgruß“ gelesen. Er war in dem Evakuierungszug, der für den 29. Januar 1945, ca. 20 Uhr in Meseritz angekündigt war und erst am nächsten Morgen gegen 6 Uhr den Bahnhof verließ, mitgefahren. Er erinnert sich, dass der Zug sehr lang war und am hinteren Ende Güterwagen angehängt waren. Gezogen wurde der Zug von zwei Lokomotiven. In Küstrin verließ er auf dem Güterbahnhof den Zug und man ging etwa 1 Kilometer weit zu Fuß zu dem Personenbahnhof, wo dann seine Familie einen anderen, aus Danzig kommenden Zug zur Weiterfahrt nach Weimar über Senftenberg nahm. Herr Schneider war damals 10 Jahre alt und ist heute 69. An Patienten – auch nicht an solche, die sich mit Bettlaken gegen die Kälte geschützt hatten – kann er sich nicht erinnern. Herr Schneider hat diese Erinnerungen bereits zu Papier gebracht und sie an den „Heimatgruß“ gesandt, wo sie in einer der nächsten Ausgaben erscheinen sollen.

 

 

Nachtrag (September 2006)

Einen Nachtrag möchte ich in diesem Zusammenhang anfügen. Den Wunsch meines Informanten, die Mitteilung hier nur in anonymisierter Form wiederzugeben und die mir bekannt gewordenen Namen vertraulich zu behandeln, respektiere ich selbstverständlich. Gleichwohl denke ich, dass die Beobachtungen als solche verdienen, aufgeschrieben und überliefert zu werden. Aus dem Brief (E-Mail), der mich am 7. September 2006 erreichte, beschränke ich mich ohne weiteren Kommentar auf die hier anstehenden Vorgänge.

    Mein Großonkel war in besagtem Zeitraum als reaktivierter Reichsbahner mit Rangierfahrten im Raum Meseritz/Obrawalde betraut. Er hatte meinen Vater eingeladen (leider kann das Datum nicht mehr genau bestimmt werden, es fällt jedoch in die Zeit „als die Russen heranrückten“, also besagten Zeitraum), ihn auf der Lok bei einer Fahrt zu begleiten. Auf dem Bahnhof Obrawalde hat mein Großonkel Güterwaggons an- oder abgekoppelt, in die mein Vater hineinsehen konnte (oder die teilweise offenstanden). Diese Güterwaggons waren gefüllt mit Leichen, die in schwarzes Luftschutzverdunkelungspapier eingewickelt waren. Mein Vater äußerte, daß es sich dabei um ermordete Patienten aus der Psychiatrie Obrawalde handelte.

    Nach seiner Flucht in den amerikanischen Sektor Berlins ist er [der Vater] in einem Aufnahmelager in West-Berlin durch amerikanische Militärbehörden auf bestimmte Umstände in Gefängnissen in der sowjetischen Zone, aber auch auf seine Erlebnisse in Meseritz befragt worden. Da dies Anfang der 50er Jahre geschah, konnte dies im ersten Obrawalde-Prozeß nicht berücksichtigt worden sein. Ob seine im Aufnahmelager wohl protokollierte Aussage im 2. Prozeß einfloß, vermochte er nicht zu sagen.

 

Dies war vorerst das letzte Ergebnis meiner Umfrage.

Sollten weitere hinzukommen, werde ich sie an dieser Stelle auch künftig gerne zugänglich machen. Zuschriften, die auf Wunsch auch vertraulich behandelt werden, bitte an die hier angegebene Kontaktadresse.

 

 

Anmerkungen

[1] Eine ausführliche Beschreibung dieser Forschungen erschien im Dezember 2003 als Norbert von Hannenheims Todestag (siehe unten). – Eine weitere Publikation des Verfassers, die mit den hier geschilderten Ereignissen unmittelbar in Zusammenhang steht, ist Richard Rosenbergs „Erlebnisse in der Anstalt Meseritz-Obrawalde unter russischer Besetzung“ (siehe unten).

[2] Für ihre Unterstützung ist hier nochmals dem Vorsitzenden des Vereins, Herrn Leonhard von Kalckreuth (Köln), sowie der Redakteurin des „Heimatgrußes“, Frau Brunfriede Fischer von Mollard (Bremen), zu danken.

[3] Besonders ermutigte mich Andreas Mahal (Mitarbeiter des Landesarchivs Berlin) zu diesem Schritt, nachdem er mir in der Vergangenheit schon manchen möglichen Fundort für meine jetzigen von-Hannenheim- und Obrawalde-Recherchen genannt und sich gelegentlich sogar selbst aktiv daran beteiligt hatte. Durch seinen Hinweis wie seine Vermittlung wurde es mir möglich, einen Teil der im Landesarchiv Berlin archivierten Prozessakten und Vernehmungsprotokolle auszuwerten, die 1946 bei den Strafverfahren gegen die Obrawalder Oberärztin Dr. Hilde Wernicke und die Pflegerin Helene Wieczorek angefallen waren (Sign.: LArch B Rep. 058). Vgl. auch Anm. 5.

[4] Zuerst veröffentlicht in: Heimatgruß, Mitteilungsblatt für Mitglieder und Freunde des Heimatkreises Meseritz e. V. und der Heimatkreisgemeinschaft Birnbaum, Schriftleitung Brunfriede Fischer von Mollard, Nr. 163, herausgegeben vom Heimatkreis Meseritz e.V., Troisdorf: Heimatkreis Meseritz e. V., Dezember 2002, S. 34 (mit von Hannenheims Photo).

[5] Offenbar eine Verwechslung mit der Oberpflegerin Amanda Ratajczak, welche die Tötung von zweieinhalbtausend Frauen gestanden hatte und von einem russischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. Die Hinrichtung fand am 25. April 1945 statt. Die Pflegerin Helene Wieczorek wurde nach dem Krieg gemeinsam mit der Oberärztin Dr. Hilde Wernicke angeklagt; beide wurden am 25. März 1946 vom Schwurgericht Berlin zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 14. Januar 1947 vollstreckt.

[6] Wörtlich: „Es gibt keine Wolke ohne einen silbernen Saum“; Schopenhauer übersetzt: „Kein Kummer ohne seinen Trost“ (B. Gracián, Orakel der Weltklugheit, § 190).

[7] Ca. 100 km östlich von Königsberg im ehemaligen Ostpreußen.

[8] Vgl. Anm. 5.

[9] Ca. 30 km südöstlich von Stettin. Zur Heilanstalt Treptow an der Rega vgl. Harald Jenner (Bearb.), Quellen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen 1939–1945 in deutschen und österreichischen Archiven. Ein Inventar [Download der pdf-Datei hier], pdf-Seite 29.

[10] Heute: Tzemeszno Lubuskie (Kreis Oststernberg, Neumark).

[11] Richard Rosenberg wurde von russischer Seite als zeitweiliger Direktor der Anstalt eingesetzt; er verließ Obrawalde Anfang Juli 1945. Vgl. hierzu seinen Bericht Erlebnisse in der Anstalt Meseritz-Obrawalde unter russischer Besetzung (siehe unten). Den Hinweis auf Rosenberg verdanke ich dem Berliner Psychiatrie- Historiker Dr. Thomas Beddies.

[12] Der Maler Hans Ralfs starb am 21. April 1945 in Obrawalde. Über seinen Aufenthalt in der Anstalt vgl. den Abschnitt Der Maler Hans Ralfs in meinem Aufsatz Norbert von Hannenheims Todestag (siehe unten).

[13] Die vormals in der Wewelsburg vorhandene Dauerausstellung über Meseritz wurde inzwischen aufgelöst und 2010 nach Meseritz abgegeben; doch ist im Internet eine Webseite vorhanden, die an diese Ausstellung erinnert; vgl. hier.

[14] Vgl. Wulff-Eberhard Brebeck und Andreas Ruppert, Deutsche im östlichen Mitteleuropa. Kultur – Vertreibung – Integration (siehe unten).

[15] Jahr 1942: Reg.-Nr. 1 bis 515; Jahr 1943: Reg.-Nr. 1 bis 2235; Jahr 1944: Reg. -Nr. 1 bis 1499 (Teil 1); Nr. 1500 bis 3808 (Teil 2); Jahr 1945: Reg.-Nr. 1 bis 191 (briefl. Auskunft von W.-E. Brebeck vom 12. Mai 2003).

[16] M. B. starb in der Neuruppiner Anstalt im April des folgenden Jahres; ihre Krankenakte ist erhalten.

[17] Zuerst veröffentlicht in: Heimatgruß (vgl. Anm. 4), Nr. 165, Juli 2003, S. 36–37.

 

 

Obrawalde-Literatur
(Auswahl, chronologisch)


1965

Pierre Joffroy, Le retour des bourreaux [Die Rückkehr der Henker],
in : PARIS MATCH, Nr. 831, Paris, 13. März 1965, S. 3–5, 7, 9.
(Bezieht sich auf den Münchener Prozess von 1965)


1975

Józef und Jerzy Radzicki, Zbrodnie hitlerowskiej służby sanitarnej w Zakładzie dla Obłakąnych w Obrzycach, Zielona Góra 1975


1985

Götz Aly [Mitverfasser] Aussonderung und Tod. Eine klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Berlin [West]: Rotbuch-Verlag, 1985, 1. Auflage, 189 S. (Umfang). Hier u. a. auf dem Einband das Foto: „Türe zum Tötungszimmer in der Anstalt Meseritz-Obrawalde“. – Autoren: Götz Aly, Angelika Ebbinghaus, Matthias Hamann, Friedemann Pfäfflin und Gerd Preissler

Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat, Die „Vernichtung lebensunwerten
Lebens“
, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag (Nr. 4326), © 1985,
S. 401–410: Die psychiatrische Vernichtungsanstalt Meseritz-Obrawalde

Ernst Klee (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt am Main: Fischer
Taschenbuch Verlag (Nr. 4327), 1985. Hier S. 306–322: Erklärung des
gerichtsmedizinischen Hauptexperten der I. Weißrussischen Front über
die Massenvernichtung der Patienten in Meseritz-Obrawalde


1987

Wulff-Eberhard Brebeck, Die Anstalt Meseritz-Obrawalde 1942 bis 1945,
in: derselbe u. Andreas Ruppert, [Katalog] Deutsche im östlichen Mitteleuropa.
Kultur
Vertreibung  Integration. Meseritz, Paderborn, Schwerin/Warthe (= Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg, Bd. 2), Paderborn 1987,
S. 122–124.


1991

Hilde Steppe u. Eva-Maria Ulmer (Hg.), „Ich war von jeher mit Leib und
Seele gerne Pflegerin“.
Über die Beteiligung von Krankenschwestern in den
„Euthanasie“-Aktionen in Meseritz-Obrawalde
(Bericht der studentischen
Projektgruppe Pflege im Nationalsozialismus an der Fachhochschule
Frankfurt/Main 1998/1999), Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, 1999, S. 31–32
im Kapitel von Sibylle Keßler, Der Status der PatentInnen in Meseritz-
Obrawalde unter dem Gesichtspunkt der Diagnosestellung
[= S. (25)–32].
(Hier belegt durch: Ralf Seidel, Psychiatrie im Abgrund. Spurensuche und
Standortbestimmung nach den NS-Psychiatrie-Verbrechen
, Köln: Rheinland-
Verlag, 1991.)


1994

Heike Bernhardt, Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie“ in Pommern
1933–1945. Die Krankenmorde an Kindern und Erwachsenen am Beispiel
der Landesheilanstalt Ueckermünde
, Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag,
© 1994 (zugleich Diss. Leipzig 1993 unter dem Titel Die Anstaltspsychiatrie
in Pommern 1939
1945). Hier S. 48–54: Die Transporte von Ueckermünder
Patienten nach Meseritz-Obrawalde
; et passim


1996

Angelika Ebbinghaus (Hrsg.), Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, 1996, S. 273–309 zu Obrawalde

Fritz Niemand, Ich war in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde,
in: Hilde Steppe (Hg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus,
Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, 8. Aufl., 1996, Seite 177–188

Hilde Steppe, „Mit Tränen in den Augen haben wir dann diese Spritzen
aufgezogen.“ Die Beteiligung von Krankenschwestern und Krankenpflegern
an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit
, ebd., S. 137–174; u. a. mit Zitaten
aus den Akten des Meseritz-Obrawalde-Prozesses (22.2.–12.3.1965) und mehreren
Fotos (Gebäude der Anstalt in Obrawalde)


1998

Marianne Hühn, Psychiatrie im Nationalsozialismus am Beispiel
der Wittenauer Heilstätten
, in: Götz Aly (Hg.), Aktion T4, 19391945.
Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4
(= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 26), Berlin: Edition Hentrich, 2. erweiterte Auflage, 1998,
S. 183–197. U. a. Photo der Gebäude in Meseritz-Obrawalde, Sterbebücher
 für die Jahre 1942–1944

Thomas Beddies, Die pommersche Heil- und Pflegeanstalt im brandenburgischen
Obrawalde bei Meseritz
, in: Baltische Studien. Pommersche Jahrbücher für
Landesgeschichte
, Neue Folge, Bd. 84 (Bd. 130 der Gesamtreihe), Marburg, 1998,
S. 85–114


2000

Thomas Beddies, Krankenmord in den östlichen preußischen Provinzen.
Die pommersche Landesheilanstalt Obrawalde im brandenburgischen Kreis
Meseritz 1939–1945
, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft
für Geschichte der Nervenheilkunde
, 6. Jg., Würzburg 2000, S. 49–58


2003

Herbert Henck, Richard Rosenbergs „Erlebnisse in der Anstalt Meseritz-
Obrawalde unter russischer Besetzung“. Einführung
[und Faksimile von
Rosenbergs Text], in: Thomas Beddies und Kristina Hübener (Hg.), Dokumente
zur Psychiatrie
im Nationalsozialismus (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte
des Landes Brandenburg
, Bd. 6), Berlin: be.bra wissenschaft verlag, [November]
2003, S. 313–335, ISBN 3-937233-00-8, ISSN 1611-8456. Wiederabdruck
(ohne Einführung) in: Heimatgruß, Mitteilungsblatt für Mitglieder und Freunde
des Heimatkreises Meseritz e. V. und der Heimatkreisgemeinschaft Birnbaum
,
Nr. 170, hg. vom Heimatkreis Meseritz e.V., Troisdorf: Heimatkreis Meseritz e. V.,
Teil 1 [von 3], September 2004, S. 12–17 unter der Überschrift Wie war das 1945
in Obrawalde?
, eingeleitet von Leonhard von Kalckreuth; Teil 2 unter der
Überschrift Erlebnisse in der Anstalt Meseritz-Obrawalde unter russischer
Besetzung
, ebd., Nr. 171, Dezember 2004, S. 9–12; Teil 3 ebd., Nr. 172,
März 2005, S. 10–12

Herbert Henck, Norbert von Hannenheims Todestag. Neue Erkenntnisse über
das Schicksal des siebenbürgischen Komponisten in Meseritz-Obrawalde
,
in: Jürgen Wetzel (Hg.), Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des
Landesarchivs Berlin 2003, Redaktion: Werner Breunig, Berlin: Gebr. Mann Verlag,
[Dezember] 2003, S. 109–135; siehe auch hier.


2004

Horst Illiger, »Sprich nicht drüber!« Der Lebensweg von Fritz Niemand,
Kartoniert, 210 S., 20 Fotos, 5 Faksimiles, ISBN 3-926200-60-X. Neumünster:
Paranus Verlag / Die Brücke Neumünster [September] 2004

 

 

Web-Links

Gedenkpark – Obrawalde (hier), Webseite des Allgemeinen Behindertenverbandes in Mecklenburg-Vorpommern e.V.

SAMODZIELNY PUBLICZNY SZPITAL DLA NERWOWO I PSYCHICZNIE CHORYCH W MIĘDZYRZECZU (polnische Homepage der heutigen Klinik von Meseritz-Obrawalde; hier unter anderem der Text Wspomnienia dr. R. Rosenberga und Wspomnienia Hansa Ralfsa von Joachim Boche im Teil „KARTY HISTORII“

Über das Auffinden der Obrawalder „Totenbücher“ wurde ich zunächst von Andreas Mahal, Berlin, unterrichtet, der hier schon mehrfach genannt ist und dem ich für seine Informationen nach wie vor danke. Ebenso wies mich Dr. Florian Kimm, Nußloch, auf einen Link hin, und auch ihm bin ich für seine Aufmerksamkeit verbunden. Die genannten Totenbücher befinden sich seit dem 26. Januar 2010 im Landesarchiv Berlin, und Einzelheiten können dem folgenden Link entnommen werden: hier.

 

 

Filme

Bilder aus der Anstalt Meseritz-Obrawalde, den Konzentrationslagern
Auschwitz, Majdanek u.  a. nach Kriegsende 1945
, Zusammenstellung von Dokumentaraufnahmen aus der Anstalt Meseritz-Obrawalde und den Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek nach der Befreiung 1945, Kurzfilm, Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt am Main; Kopie im Bundesarchiv (Filmarchiv) Berlin, 35 mm, 120 m / 4'24”

Der Augenzeuge [1946], [Nr. 05 / ??.04.1946], Wochenschau, DDR 1946
[Beitrag 2: Obrawalde. Urteile gegen eine Ärztin und eine Schwester wegen <sog.> Euthanasie]. (Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt am Main) mit Verweis auf das Bundesarchiv (Filmarchiv), Berlin. (Freundlicher Hinweis: Jeanpaul Goergen, Berlin)

Dirk Hansen, Zug um Zug in den Tod. Der Mord an psychisch Kranken
in der Anstalt Obrawalde
. Radio Bremen, 1994, 45 Minuten

 

Hinweis: Die einstigen Links zu diesem und anderen Anschnitten sind gelegentlich
heute nicht mehr aufrufbar. Man kann die bibliographischen Angaben dennoch in Suchmaschinen zur Heranziehung von Dokumenten verwenden.

 

 

Dank

Danken möchte ich nochmals allen hier Genannten, die auf die ein oder andere Weise zu den Ergebnissen dieser Untersuchung beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt indes den Vertriebenen, die mir ihre Erinnerungen zugänglich gemacht haben, die hier wiedergegebenen Texte nochmals durchgesehen und zur Publikation freigegeben haben. Sie schufen damit die Grundlage eines Wissens, das über das bislang Bekannte mancherorts hinausgeht.

Antje Arndt, Neuruppin, Archiv des Neuruppiner Hospizes
Helmut Augustiniak, Heimatverein Ketzin an der Havel
Dr. Thomas Beddies, Berlin, Psychiatrie-Historiker
Doris Bohm, Kreismuseum Wewelsburg
Wulff-Eberhard Brebeck, Kreismuseum Wewelsburg
Brunfriede Fischer von Mollard, Bremen, Heimatkreis Meseritz e. V.
Jeanpaul Goergen, Berlin
Leonhard von Kalckreuth, Köln, Heimatkreis Meseritz e. V.
Dr. Florian Kimm, Nußloch bei Heidelberg
Friedrich Lehmkühler, Wertheim am Main
Andreas Mahal, Berlin, Landesdenkmalamt (vormals Landesarchiv Berlin)
Anne Moser, geb. Körber, Heideck
Dorothea Neuß, geb. Lisinki, Goslar
Herta Niegisch-Janotte, Braunschweig
Thea und Joachim Schmidt, Troisdorf, „Heimatgruß“
Winfried Schneider, Hessisch Oldendorf

 

Vgl. auch Fotos des Landeskrankenhauses Obrawalde

 

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Dienstag,  28. Oktober 2003
Letzte Änderung: Mittwoch, 27.2.2019

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