Barraqué, Sonate

 

Jean Barraqué – Sonate

 

von

Herbert Henck

 

Nachstehender Text wurde für das Booklet der CD (Jean Barraqué, Sonate pour piano – Herbert Henck, Piano) geschrieben, die im Januar 1999 bei ECM erschienen ist (ECM New Series 1621). Der Text wurde im Oktober 2001 neu durchgesehen. – Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung durch ECM, München.

 

Von Jean Barraqué (1928–1973) und seiner Klaviersonate hörte ich erstmals Anfang der siebziger Jahre durch den britischen Musikwissenschaftler Richard Toop, der seinerzeit an der Kölner Musikhochschule als Assistent des frisch gebackenen Professors Karlheinz Stockhausen arbeitete. Toop war ein idealer Vermittler – liberal, informiert über aktuellste Entwicklungen der Musik, belesen und großzügig im Verleihen von Büchern und Schallplatten. Schnell wurde seine Wohnung ein Sammelpunkt für alle Studenten, die gleich mir an zeitgenössischer Musik Interesse hatten.

In dieser Runde kam auch Barraqués Sonate zur Sprache, doch wurde das Werk weder eingehender analysiert noch interpretiert, zumindest nicht in meinem Beisein. Erst später erfuhr ich, dass Toop in eben dieser Zeit eine sorgfältige Einführung zu der Schallplatteneinspielung von Roger Woodward verfasst hatte. Barraqué, der im August 1973 fünfundvierzigjährig gestorben war, hatte der Einspielung Woodwards im Herbst 1972 noch beigewohnt, und lange Zeit gehörte sie neben der Erstaufnahme durch Yvonne Loriod (1957) und der ebenfalls in Anwesenheit des Komponisten entstandenen Aufnahme durch Claude Helffer (1969) zu den drei einzigen Tondokumenten des Werkes auf dem Markt.

Wenige Jahre später bestellte ich mir die Noten der Sonate, da mir ihr spektakulärer Umfang und ihre einzigartige Komplexität in guter Erinnerung geblieben waren und ihre musikalischen Ansprüche mich reizten. Nach endlosem Warten auf die Lieferung hielt ich den Druck in Händen, stand nun aber vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe. Toop hatte seinerzeit bereits vor der sehr fehlerhaften Ausgabe gewarnt, und so war ich zunächst ratlos, wie ich an einen zuverlässigen Notentext gelangen könne.

Ich zögerte, die mir nicht persönlich bekannten Pianisten anzuschreiben, welche die Sonate bereits einstudiert und aufgenommen hatten, da mir das Anliegen, die Korrekturen einem potentiellen Konkurrenten auszuhändigen, zu unbescheiden erschien. So blieb es vorerst beim Durchblättern des Stückes und einem beschwerlichen Mitleseversuch, als Claude Helffers Aufnahme im Rundfunk gesendet wurde, denn nur ausnahmsweise konnte ich das hochpolyphone Geflecht von Stimmen und Rhythmen in der erforderlichen Geschwindigkeit entwirren. Das Urteil eines als aufgeschlossen geltenden Rundfunkredakteurs, mit dem ich mich damals über die Sonate unterhielt, entmutigte mich zusätzlich – er fand das Stück zwar interessant und wusste um seine Wertschätzung in Theoretikerkreisen, tadelte jedoch sein Grau in Grau, seine Bevorzugung der Mittellage und eine allgemeine Sprödigkeit.

Wieder blieb das Werk lange unberührt auf meinen Regalen, und erst als Josef Anton Riedl mich mehrmals in Folge zu dem von ihm gestalteten Festival Neue Musik München einlud, kam ich im Dezember 1994 auf Barraqués Sonate zurück. Riedl war mit meinem Programmvorschlag sofort einverstanden. Er schätzte die experimentelle Musik der frühen fünfziger Jahre und kannte Barraqués Arbeit. Darüber hinaus hatte eine Aufführung der Sonate noch immer Seltenheitswert und fügte sich gut in das Konzept der Veranstaltung. Wir vereinbarten den 4. Dezember 1995 als Konzerttermin, und der Zufall wollte, dass sich auf Grund einer Einladung von Thomas Adank in Bern die Möglichkeit bot, das Werk im dortigen Kunstmuseum in der Reihe TonArt zwei Tage später zu wiederholen.

Erneut stand ich vor dem Problem des mangelhaften Notentextes, ging es auf dem Hintergrund der geplanten Aufführungen aber mit neuer Energie an. Ich versuchte zunächst, über den italienischen Originalverleger Bruzzichelli in Florenz zu erfahren, ob vielleicht eine Neuausgabe der zuerst im Mai 1966 erschienenen Sonate herausgekommen sei, ob es mittlerweile ein Fehlerverzeichnis gebe oder ob man mir Experten für meine Anliegen nennen könne. Doch weder direkt noch durch die italienische Urheberrechtsgesellschaft ließ sich auch nur in Erfahrung bringen, ob der Verlag noch bestand oder was aus seiner Hinterlassenschaft geworden war.

Da ich den Weg über meine pianistischen Vorgänger noch immer scheute, ging ich die mir zugänglichen literarischen Quellen durch. Ich besaß neben einigen kürzeren Aufsätzen die von Barraqué verfasste Rowohlt-Bildmonographie über Claude Debussy, den 1993 veröffentlichten Barraqué-Band der Musik-Konzepte sowie die Barraqué-Sondernummer des französischen Periodikums Entretemps von 1987. In Letzterer war eine ausführliche Analyse der Sonate abgedruckt, die der französische Komponist Joël-François Durand ausgearbeitet hatte. Hier entdeckte ich auch eine detaillierte Chronobiographie von Rose-Marie Janzen, die in einer Fußnote auf das Bestehen der Association Jean Barraqué hinwies und die Leserschaft um Unterstützung beim Zusammentragen der Lebenszeugnisse Barraqués bat. Eine Anschrift war beigefügt (54, rue Monsieur-le-Prince, F-75006 Paris).

Ich ließ mir von der Auslandsauskunft Janzens Nummer geben, holte aber, ebenfalls telefonisch, noch den Rat Heinz-Klaus Metzgers ein, der zusammen mit Rainer Riehn die Musik-Konzepte edierte und mit Barraqué-Spezialisten in Kontakt gestanden haben musste. Metzger bestätigte, bei Rose-Marie Janzen an der richtigen Adresse zu sein: Sie hatte Barraqué bereits 1960 durch die Vermittlung Claude Helffers kennen gelernt und vertrat heute die Interessen der Association Jean Barraqué, der zahlreiche prominente Musiker angehörten oder angehört hatten, darunter Pierre Boulez, Henri Dutilleux, Klaus Huber, György Ligeti, Witold Lutosławski, Olivier Messiaen, Henri Pousseur und Gunther Schuller.

In der Folgezeit erwies sich Rose-Marie Janzen, die zu meiner Erleichterung auch fließend deutsch und englisch sprach und bestens um die philologischen Probleme der Sonate wusste, als unersetzliche Hilfe. Ich erfuhr, dass der Original-Verleger Aldo Bruzzichelli, ein florentinischer Industrieller und Kunstmäzen, inzwischen verstorben war und dass die Rechte an Barraqués Werken an den deutschen Bärenreiter-Verlag in Kassel übergegangen waren. Ein Musikwissenschaftler in Berlin, Heribert Henrich, der kurz vor Abschluss seiner Dissertation über Barraqué stand, arbeitete an einer Neuausgabe der Sonate und besaß bereits Mikrofilme der Manuskripte.

Da es augenblicklich jedoch keine Abzüge dieser Filme gab und ein Arbeiten an Lesegeräten zu beschwerlich war, wurde Janzen bei der Pariser Bibliothèque Nationale, die Barraqués Manuskripte verwahrte, vorstellig und beschleunigte das oft zeitraubende Orderverfahren. Anfang September 1995 hielt ich eine Kopie von Barraqués Reinschrift der Sonate als Leihgabe in Händen und konnte mit dem Textvergleich beginnen. Ich protokollierte alles, was mir an Unterschieden zwischen dem Druck und dem Manuskript auffiel oder sonst fraglich schien, und konnte meine Untersuchung noch ausdehnen, nachdem ich, auf demselben Weg, im November eine Kopie von Barraqués erster vollständiger Niederschrift der Sonate erhalten hatte. Die Arbeit am Instrument hatte ich indes schon zwei Monate zuvor aufgenommen, um mich frühestmöglich mit den speziellen manuellen Schwierigkeiten des Werkes vertraut zu machen.

Wertvolle Hilfe war mir unterdessen von dem Berliner Barraqué-Forscher Heribert Henrich zuteil geworden, mit dem ich fortan korrespondierte. Er hatte bereits eine vorläufige Fehlerliste angelegt, die er mir zur vertraulichen Einsicht überließ. Dank seines intimen Wissens um die kompositorischen, mitunter auch biographischen und historischen Hintergründe des Werkes konnte er viele Unstimmigkeiten zwischen Druck und Manuskripten erklären, die weniger Fortgeschrittenen (wie mir) nicht unmittelbar auffielen. Schließlich machte mir Michael Töpel, der zuständige Lektor des Bärenreiter-Verlages, einige Ablichtungen von Manuskript-Fragmenten zugänglich, welche vor allem die millimetrische Übertragung rhythmisch komplexer Passagen zeigten.

Die Einstudierung der vierundvierzigseitigen Sonate wurde aufwendiger, als ich geglaubt hatte. Obgleich ich durch andere seriell organisierte Musik (wie etwa die Klavierwerke von Boulez oder Stockhausen) mit rhythmisch anspruchsvollen Notationen vertraut war, stellten sich hier Aufgaben, die das Bekannte mancherorts übertrafen. Erschwert wurde das Lernen besonders durch die ungenaue graphische Verteilung der Noten, die häufig in Widerspruch zur mathematischen Berechnung der Notenwerte stand. Fast sämtliche Rhythmen des Werkes musste ich daher überprüfen und gegebenenfalls mit Deckweiß und Tusche berichtigen, um nicht immer wieder beim Spiel durch ein verfälschtes Notenbild irregeleitet zu werden. Am Ende meiner Textsichtung, die freilich noch keine wissenschaftlichen Ansprüche befriedigen konnte, hatte ich handschriftlich einhundertfünfundzwanzig Seiten mit Korrekturen und rhythmischen Darstellungen gefüllt.

Nicht alle Fragen ließen sich klären, und mehrfach war zwischen zwei Deutungen zu wählen. Die Mängel des Druckes gingen indes nicht immer zu Lasten des überforderten Notensetzers, der sichtlich versucht hatte, das Manuskript maßstäblich auf die Druckvorlage zu kopieren. Gleichermaßen rührten sie vom Komponisten selbst her, der eine grundsätzliche Abneigung gegen alles Korrekturlesen entwickelt hatte und der, nicht zuletzt auf Grund seiner hochgradigen Kurzsichtigkeit, diese Arbeit seinem Schüler Bill Hopkins (1943–1981) übertragen hatte.

Musikalisch betrachtet vereinte die Sonate gegensätzliche Strömungen. Strenge und freie Satzweisen wechselten und wiesen sich durch unterschiedlich gestaltete Tempi und Registerlagen aus. Den Aufbau im Großen bestimmte die Gegenüberstellung eines schnellen und eines gleichgewichtigen langsamen Satzes. Der schnelle Satz wurde jedoch zunehmend von langsamen Feldern durchdrungen und der langsame von schnellen, so dass sich die Gegensätze im Ganzen wieder ausglichen. Das Stück schloss einstimmig in vermittelndem Tempo mit einer Zwölftonreihe, deren Grundgestalt den Tonhöhenaufbau des gesamten Werkes regelte.

Auch wenn ich mir die Monate vor der ersten Aufführung der Sonate im Wesentlichen frei gehalten hatte, musste ich, allein schon aus wirtschaftlichen Rücksichten, die Einstudierung einige Male unterbrechen. So etwa, um die Uraufführung von Antoine Beugers etwas (lied) für die Donaueschinger Musiktage im Oktober (1995) vorzubereiten. Beuger, ein niederländischer Komponist, fügte in fast alle seine neueren Werke Zonen des Wartens, des manchmal minutenlangen musikalischen Stillstands ein, die mir, ohne dass ich dies näher hätte begründen können, substantiell anders erschienen als vergleichbare Tendenzen bei John Cage. Die Stille schien mir nicht nur beeinflusst, sondern geradezu definiert von den klingenden, kompositorisch verfügten Strukturen, die die Pausen beidseitig begrenzten, und das Schweigen der Musik wurde zum akustischen Fenster in den je anderen akustischen Privatraum des Hörers.

Diese Erfahrung, die bei einer reproduzierbaren Tonaufnahme besondere Aktualität erhielt, ging in gewisser Weise in meine Interpretation von Barraqués Sonate ein. Zumindest bekräftigte sie mich, einen Abschnitt immer weiter auseinander rückender Tonzellen extensiv zu gestalten und neun symbolisch als Fermaten notierte Pausen aus einem kaum wahrnehmbaren Bereich bis zu fast einer halben Minute zu steigern. Die anwachsende Stille (zu Beginn des letzten Drittels des ersten Satzes) stellte ich mir als Überleitung vor, als eine Art Vorbereitung auf die Weite des zweiten Satz, der sich fast schon beiläufig nach einer kurzen, die kompositorische Großform mehr verwischenden als betonenden Zäsur an den ersten schloss. Die vorgeschriebenen Tempi und Pausen froren hier die Musik geradezu ein, und es entstanden mehr und mehr erstarrende Gestalten von gläserner Schönheit, Ruhe und Reinheit.

Am Ende der Einstudierung hatte sich nirgendwo im Verlauf der mehr als fünfundvierzigminütigen Sonate die Empfindung von zu viel Theorie oder zu wenig Ausdruck eingestellt; überall schien mir dieselbe musikalische Verbindlichkeit, Energie und Schöpferkraft, dieselbe Glut des Geistes zu wirken. Ich hatte ein Werk kennengelernt, dem ich in der Klavierliteratur nur wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen wusste.

Deinstedt, Januar 1997

 

Literatur

Heinz Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.), Jean Barraqué (= Musik-Konzepte, Bd. 82), München: edition text + kritik, Oktober 1983. (Hier S. 105–113: Werkverzeichnis und Auswahlbibliographie von Heribert Henrich; u. a. zur Sonate S. 82–104: Serielles Rubato von Klaus Linder.)

Gerard Pesson (Hg.), Jean Barraqué (= Entretemps No. 5, numéro spéciale), Paris 1987. (Hier auf Seite 119–130: L’inachèvement sans cesse. Essai de chronobiographie de Jean Barraqué von Rose-Marie Janzen; S. 89–117: La Sonate pour piano von Joël-François Durand.)

Heribert Henrich, Das Werk Jean Barraqués, Kassel (u. a.): Bärenreiter, 1997 [Grundlegende Einführung in Biographie und Arbeitsweise Barraqués.]

Jean Barraqué, Ècrits, réunis, présentés et annotés par Laurent Feneyrou, Publications de la Sorbonne, Série Esthétique N°3, septembre 2001, 603 S., ISBN 2-85944-418-1

Paul Griffiths, The Sea on Fire, Jean Barraqué (= Eastman Studies in Music), Rochester, NY: University of Rochester Press, 2003, 253 S., ISBN: 1580461417, 70 $ / 50 £ / 58 €

 

Vgl. auch Konzertprogramme: Jean Barraqué, Sonate

CD-Einspielung: Jean Barraqué, Sonate pour piano, Herbert Henck (Piano), 1 CD, Tonaufnahmen: 29.–31.7.1996 in Frankfurt am Main/Preungesheim (Evangelische Festeburgkirche), ECM, München, Katalognr. ECM NEW SERIES 1621, [Januar] 1999.

Cover-Abbildung
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Erste Eingabe ins Internet:  Mittwoch,  31. Oktober 2001
Letzte Änderung:  Donnerstag, 24. Januar 2019
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