Federico Mompou – „Música Callada“

 

Federico Mompou – Música Callada

 

von

Herbert Henck

 

Nachstehender Text wurde für das Booklet der CD (Federico Mompou, Música Callada – Herbert Henck, Piano) geschrieben, die im Mai 1995 bei ECM erschienen ist (ECM New Series 1523). Der Text wurde im November 2001 neu durchgesehen. Eingabe ins Internet mit freundlicher Genehmigung durch ECM, München.

 

Anfang 1991 plante das Amsterdamer Musikzentrum De Ijsbreker eine Reihe von Konzerten mit spanischer Klaviermusik, und Michiel Cley, der mit den Vorbereitungen befasst war, fragte telephonisch an, ob ich in diesem Rahmen Federico Mompous Klavierzyklus Música Callada übernehmen könne. Der Name des Komponisten war mir seinerzeit noch völlig unbekannt, doch weckte die kurze Beschreibung, die mir der Programmplaner von Mompous Musik gab, mein Interesse. So erbat ich zunächst die Noten des zur Aufführung anstehenden Werkes, um mir ein eigenes Urteil zu bilden, und bald darauf traf das Gewünschte zusammen mit einer Musicassette und einigem photokopierten Begleitmaterial ein.

Bei den Noten handelte es sich um ein 1989 in Paris bei Salabert erschienenes Piano Album, das Nachdrucke aus den Jahren zwischen 1915 und 1967 versammelte und einen Querschnitt durch Mompous Klavierschaffen darstellte. Die Titel und Satzbezeichnungen wechselten zwischen Französisch und Spanisch. Neben dem vollständigen Abdruck der Música Callada gab es hier eine Auswahl von Préludes, Variationen über ein Thema von Chopin, Genrebilder aus der Vorstadt, Kinderszenen, Landschaftsbilder, eine Gruppe von Liedern und Tänzen und abschließend einen sechsteiligen, Fêtes lointaines (»Ferne Feste«) betitelten Zyklus.

Die Música Callada bildete das weitaus umfangreichste Werk des Bandes. Ihre 28 Stücke waren in vier Hefte mit neun, sieben, fünf und nochmals sieben Einzelsätzen gegliedert (komponiert 1959, 1962, 1965 und 1967; veröffentlicht 1959, 1962, 1966 und 1974). Ein erstes Durchblättern ließ das Notenbild vertraut und aus pianistisch-technischer Sicht mühelos spielbar erscheinen. Virtuoses, Ornamentales oder Spielerisches fehlte fast ganz, ebenso alles, was gewöhnlich zu den Errungenschaften moderner Musik zählt, wie etwa komplexe rhythmische Proportionen, häufige Taktwechsel, extreme Register, exzessive Dynamik, Häufung von Vorzeichen oder große Intervallsprünge.

Die Lektüre am Instrument zeigte von Anbeginn, dass das Werk dem französischen Impressionismus nahe stand, sich in dieser Nähe aber nicht erschöpfte. Seine Harmonik war vielfach dissonant geschärft, ohne je aggressiv zu werden, und hatte insgesamt einen härteren, herberen, auf Schmuck und Glanz verzichtenden Klang, der eher an die Sprache Saties als die von Debussy oder Ravel denken ließ. Die subtilen harmonischen Reibungen konnten sich bis zum freitonalen Satz weiten, wurden allerdings auch wieder gemildert, so dass in manchen Abschnitten eine reine Dur- und Moll-Akkordik zustande kam. Ebenso konnte die vorherrschende karge drei- bis fünfstimmige Satzweise gelegentlich bis zum Solo zurückgenommen werden, während sie andernorts zum vielstimmigen, orchestralen Satz heranwuchs.

Wiederholungen gab es auf mehrerlei Ebenen: zum einen als deklamatorisches Verharren auf einzelnen Melodietönen, zum andern in Form rhythmisch parallel gebauter Phrasen. Oftmals erschienen aber auch größere, mehrere Takte umfassende Abschnitte ein zweites Mal, wobei häufig der Anfang eines Stückes nochmals an seinen Schluss zu stehen kam und ein formales Gleichgewicht schuf. Traten einmal schnellere Notenwerte auf, so fand auch hier weniger eine Entwicklung statt, als dass sich bestimmte Figuren wiederholten und zu flächiger Wirkung verbanden.

Langsame Tempi überwogen, und die dynamischen Werte bewegten sich vor allem im leisen oder halblauten Bereich. Dramatische Steigerungen waren so die seltene Ausnahme. Alles schien auf Gleichmaß, Ruhe und sangbare Linien angelegt. Ausgewogenheit, Beschränkung und Unaufdringlichkeit standen im Vordergrund, und im Wesentlichen bestimmte ein Tonfall von Wehmut, Trauer, Stille oder Versenkung den Ausdruck der Musik.

Am Ende des ersten Heftes gab es einen Vermerk, in dem der Komponist die Schwierigkeit beschrieb, die wahre Bedeutung des Zyklustitels zu übersetzen. Mompou verwies dabei auf den spanischen Mystiker San Juan de la Cruz [Johannes vom Kreuz] (1542–1591), der in einem seiner Gedichte «La Música Callada, la Soledad Sonora» besungen hatte:
 

        la noche sosegada,
        en par de los levantes de la aurora,
        la música callada,
        la soledad sonora,
        la cena que recrea y enamora;

                  San Juan de la Cruz, Cántico espiritual
         

        Er gleicht der Nacht, mit stiller Ruh gekrönet,
        Die schon entgegen geht dem Morgenlicht;
        Er ist Musik, die nur verschwiegen tönet,
        Ist Einsamkeit, die süß in Klängen spricht,
        Ein Abendmahl, das froh zu neuer Lieb’ erfrischt.

                   Johannes vom Kreuz, Geistlicher Gesang II, 15
                    Übersetzung von Bernhard Panzram

         

De la Cruz habe hier versucht, so Mompou, die Idee einer Musik auszudrücken, welche die Stimme des Schweigens selbst sei: «à exprimer ainsi l’idée d’une musique qui serait la voix même du silence».

Allein dem zweiten Stück war ein Zitat aus dem Gedicht Les pas (aus den Poésies - Charmes, 1922) von Paul Valéry (1871–1945) vorangestellt:
 

        Car j’ai vécu de vous attendre,
        Et mon coeur n’était que vos pas.

        denn ich lebte vom Dich-Erwarten,
        und mein Herz war nichts als dein Schritt.

               Übersetzung von Rainer Maria Rilke
         

Ansonsten gab es keine Untertitel, sondern nur eine Nummerierung in römischen Ziffern als Überschriften. Die Spielanweisungen beschränkten sich darauf, eine Grundhaltung der Musik anzuzeigen: angelico (engelhaft), afflitto e penoso (wehmütig und leidvoll), semplice (einfach), cantabile (gesanglich), severo sérieux (ernst), plaintif (klagend), calme (ruhig), luminoso (leuchtend). Hinzu kamen Vortragsbezeichnungen, die zur Gestaltung bestimmter Klangfarben anregen sollten, wie legato metallico (metallisches Legato), in lontananza (in der Ferne) oder profond (tief).

Fast alle Stücke waren kurz und fanden auf ein oder zwei Seiten Platz. Gleichwohl schienen sie sich über ihr aufgezeichnetes Ende hinweg fortzusetzen, da der Komponist (zumindest in den ersten beiden Heften) konsequent auf den traditionellen Doppelstrich am Schluss der Stücke verzichtet hatte. Symbolisch führten Bögen an den letzten Noten ins Leere und bedeuteten, die pedalisierten Klänge von diesem Punkt an sich selbst zu überlassen und ihren eigenen Gesetzen nachzugeben, nach denen sie ausklingen und sich in Instrument und umgebendem Raum verlieren.

Die zerfließenden klangfarblichen Mischungen, deren mannig­faltige Schwingungen und Schwebungen sich der Notation entziehen, erschienen mir bald als Zentren dieser Musik, in denen sich das Vorangegangene sammelte und sich oft geradezu vom Materiellen und Sinnlichen ins Immaterielle und Geistige wandelte. Dieses Enden im Raum, im Leeren und Unfassbaren beeinflusste mein Hören und meine interpretatorische Ausarbeitung des Werkes nachhaltig. Die an den Schlüssen gemachte Klangerfahrung übertrug sich allmählich zurück ins Innere der Stücke, wo es häufiger bei einem mit Fermaten bezeichneten Innehalten einen vergleichbaren Stillstand der Klänge gab, und wirkte schließlich, begünstigt durch die langsamen Tempi, bis in das Verklingen einzelner Töne nach.

Parallel zur Einstudierung des Zyklus und zur Beschaffung weiterer Werke des Komponisten zog ich in der Folge alle mir zugängliche Sekundärliteratur heran, wobei mir biographische Einzelheiten bestimmte Merkmale der Musik oft erhellten. So ließ sich beispielsweise das lange Ausschwingen der Schlüsse oder die Spielanweisung des legato metallico leicht in Verbindung bringen mit Mompous Vorliebe für Glockenklänge, die ihm bereits als Kind in der Glockengießerei seines Großvaters vertraut geworden waren. Ebenso schien sich sein zurückgezogenes, den Augen der Öffentlichkeit weitgehend verborgenes Leben und Arbeiten unmittelbar in der Musik widerzuspiegeln, und nicht zuletzt gab seine spanisch-französische Abstammung wie sein zwischen Paris und Barcelona mehrfach wechselnder Wohnort Hinweise auf die Kulturen, die sich in seiner Musik zusammenfanden.

Einige kurze biografische Informationen seien abschließend ergänzt. Federico Mompou wurde am 16. April 1893 in Barcelona geboren; seine Mutter war französischer, sein Vater katalanischer Herkunft. In Barcelona studierte er zunächst am Konservatorium Klavier bei Pedro Serra, ging aber 1911 nach Paris, um Unterricht bei Ferdinand Motte-Lacroix (1882–1955), Isidor[e?] Philipp (1863–1958) und Marcel Samuel Rousseau (1882–1955) zu nehmen. Ästhetisch fühlte er sich insbesondere von der musikalischen Sprache Debussys und Saties angezogen. Die Zeit des Ersten Weltkriegs verbrachte er in seiner spanischen Heimatstadt, doch kehrte er 1921 nach Paris zurück. Hier wurde er besonders von dem einflussreichen Musikkritiker Emile Vuillermoz (1878–1960) gefördert. Von 1941 an lebte Mompou wieder in Barcelona, wo er am 30. Juni 1987 im Alter von 94 Jahren starb.

In Mompous Schaffen stehen Kompositionen für Klavier sowie Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung im Mittelpunkt. Darüber hinaus komponierte er in kleinem Umfang Werke für Orgel, Gitarre, Violine bzw. Violoncello und Klavier, Chöre (zum Teil mit Orgelbegleitung) und Orchesterlieder.


Deinstedt, Dezember 1993 bis Januar 1994

 

 

Vgl. auch Konzertprogramme: Federico Mompou, »Música Callada«

CD-Einspielung:: Federico Mompou, Música Callada, Hefte 1 – 4 (komplett)]
Herbert Henck (Piano), 1 CD, Tonaufnahmen: 2.8.1993 in Frankfurt am Main,  Preungesheim (Evangelische Festeburgkirche)
ECM, München, Katalognr. ECM NEW SERIES 1523, © 1995

Cover-Abbildung
CD bei ECM (mehr Information und Bestellung)

 

 

 

Erste Eingabe ins Internet:  Dienstag,  6. November 2001
Letzte Änderung:  Dienstag, 26. Februar 2019

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